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Die Macht der Benediktiner und Benediktinerinnen


900 Jahre Kloster Marienberg zu Boppard


Teil 1


Dr. Rainer Lahme


 

Die Unterscheidung in eine weltliche und eine geistliche Sphäre ist für die Gegenwart eine Selbstverständlichkeit. Darüber denken wir überhaupt nicht mehr nach. Doch im Mittelalter existierte diese Trennung in den Köpfen der Menschen nicht. Dies war jenseits der Vorstellungskraft des Mittelalters. Erst in dem über lange Jahre ausgetragenen erbitterten Investiturstreit zwischen dem ostfränkischen König- und Kaisertum und dem Papsttum in Rom differenzierte sich die mittelalterliche Welt weiter aus und ganz allmählich begann man zu unterscheiden, welche Angelegenheiten, Aufgaben und Rechte zur weltlichen Sphäre gehörten und in den Bereich der weltlichen Herrscher fielen, und welche Dinge eben zur geistlichen Sphäre gehörten und eine Angelegenheit von Papst, Bischöfen, Klöstern und Priestern waren. Den Höhepunkt erlebte dieser Prozess mit dem sogenannten Gang des Saliers Heinrichs IV. nach Canossa im Jahr 1077, der oftmals als eine Demütigung des Königs gesehen wird, aber vor dem Hintergrund der komplizierten Verhältnisse des Mittelalters auch als ein geschickter Schachzug des von vielen Seiten bedrängten Herrschers verstanden werden kann. Indem er die Regeln befolgte und Buße tat, musste er vom Papst wieder in die Gemeinschaft der Kirche aufgenommen werden und er war, kurzum, zwar vor der mächtigen Burg Canossa recht durchgefroren, aber erfolgreich zurück im machtpolitischen Spiel.

Die Macht- und Besitzverhältnisse im Mittelalter waren – vorsichtig formuliert – recht unübersichtlich und aus der heutigen Perspektive betrachtet völlig ungeordnet. Es gab keine Verwaltung, die den Überblick über Ansprüche und Besitztitel hatte, und es existierten auch keine klar erkennbaren territorialen Grenzen. Das alles fing erst im späten Mittelalter mit der Territorialisierung an, die aber nicht vom Königtum ausging, sondern von den an sich untergeordneten Territorialherren. Die wurden umso mächtiger, gerade am Mittelrhein, je schwächer die Kaiser- und Königsmacht im Verlauf des Spätmittelalters wurde. In einer Reichsstadt wie Boppard waren daher viele Akteure am Kampf um Pfründe, Besitz und Einfluss beteiligt, und alle hatten ihre baulichen Niederlassungen in der Stadt. Zu nennen sind der König und Kaiser, seine mächtigen Verwalter in der Stadt (die Schultheißen), die sich herausbildenden großen Adelsfamilien (oftmals ehemalige Ministeriale), die langsam aufstrebenden Patrizierfamilien (Kaufleute, Zolleinnehmer), die großen und kleinen Territorialfürsten (Grafen), die ihren Blick auf Boppard richteten (die Erzbischöfe von Köln, Trier und Mainz). Mächtige Herzöge gab es im Königsland am Mittelrhein nicht, aber ehrgeizige Grafen wie zum Beispiel die Grafen von Katzenelnbogen, die sich in St. Goar bereits in Stellung gebracht hatten. Dort wie in Boppard lockten die gewaltigen Einnahmen aus dem Rheinzoll, die überall entlang des bedeutenden Flusses einkassiert wurden. Und es gab in Boppard die Niederlassungen von Klöstern, die hier Besitz erworben hatten (Eberbacher Hof), und dann eben die großen und gewaltigen Klöster in Boppard. Denn die mächtigen Orden zog es eben auch in die Reichsstadt am Mittelrhein. Es war daher beileibe kein Zufall, dass sich seit dem Jahr 1123 die imponierende Anlage des Klosters Marienberg weithin sichtbar über Boppard erhob. Im Mittelalter war die Niederlassung der Benediktinerinnen nicht allein ein Symbol für die Macht des großen Reformordens, der die Geschichte des Mittelalters nachhaltig geprägt hat, sondern stand für reale wirtschaftliche Größe. Heute ist die Ruine des Klosters ein Menetekel des baulichen Verfalls und des Abstiegs einer ehemals bedeutenden Reichsstadt zu einer Kleinstadt am Mittelrhein mit ihren typischen Problemen für die gegenwärtige Entwicklung im Welterbe Oberes Mittelrheintal.

Aber warum waren Klöster so wertvoll für die geistige, politische und wirtschaftliche Ausgestaltung einer ganzen Region? Sie waren ein gewichtiger Akteur im Spiel um Macht und Einfluss. Sie verliehen einer Stadt oder einer Region Ansehen, sorgten für das wirtschaftliche Gedeihen in ihrer Umgebung, waren Orte der Bildung und der Überlieferung, kannten sich mit der Schrift aus, ihre Bibliotheken verwalteten das gesammelte Wissen ihrer Zeit, und sie gewährten den Schutz des Glaubens für die Menschen in der näheren und weiteren Umgebung. Klöster waren administrative Zentren, sie brachten komplexe und arbeitsteilige Organisationsformen hervor, sie standen mitunter für Innovation und es bildeten sich klösterliche Grundherrschaften.

Das gesamte Alltagsleben im Mittelalter war am christlichen Glauben orientiert, die Menschen – abgesehen von weiter bestehenden Einflüssen älterer und heidnischer Glaubenstraditionen – waren überzeugt davon, dass sie einst am Jüngsten Tag Rechenschaft über ihr irdisches Leben würden ablegen müssen, sie glaubten an ein Weiterleben nach dem Tod, hatten aber auch panische Angst vor dem Fegefeuer oder vor der Aussicht, nach ihrem irdischen Ableben statt im Himmel doch in der Hölle zu landen. Da brauchte man den Beistand der Mönche. Und selbst die Könige und Kaiser förderten die Klöster oder veranlassten Neugründungen, gaben große Schenkungen an die Klöster, damit die Mönche in großer Anzahl Messen für ihr Seelenheil feiern und lesen würden. Denn gerade die Herrscher brauchten die Fürbitte der Mönche, zumal wenn sie in ihrem Amt als Herrscher hin- und wieder recht „unchristliche“ Taten begangen oder zu verantworten hatten.

Die Könige hatten auch noch in anderer Hinsicht ein Interesse an engen Verbindungen zu mächtigen Klöstern und Äbten. Als Sachwalter des Christentums lieferten sie ihm die Legitimation seiner Herrschaft, eine geschlossene Weltanschauung, auf die sich die christlichen Herrscher in der Ausübung ihres Amtes berufen konnten. Ohne diese Komponente wäre ihre Herrschaft – übertrieben formuliert – geistig orientierungslos gewesen. Und sie halfen ihm noch auf einer anderen Ebene ganz erheblich: die Klöster stellten Ritterkontingente für die zahlreichen Kriege des Königs, mächtige Äbte zogen mitunter sogar selbst an der Spitze ihrer Ritter in den Konflikt, um gemeinsam mit dem König/Kaiser für den Erhalt des Christentums zu streiten oder für die immer als notwendig erachtete Missionierung gegen die Ungläubigen ins Gefecht zu gehen. Karl der Große sah sich als oberster Anführer der Christenheit, wenn er gegen die Sachsen immer wieder nach Osten zog, und seine Nachfolger aus dem ostfränkischen Reich standen mehr oder weniger ganz in der Tradition dieses Karolingers.

Somit kann es kaum verwundern, dass die Ordensgemeinschaft der Benediktiner eine herausragende Rolle in der Geschichte des westlichen Europas spielte und wir ihre Spuren bis auf den heutigen Tag auch in Boppard sehen können. Denn als Reichsstadt war Boppard eng in das machtpolitische Gefüge des ostfränkischen Reiches verwoben, als die Benediktinerinnen ihr Kloster hier vor 900 Jahren gründeten. Ordensgründer war Benedikt von Nursia, eine Person, die von zahlreichen Mythen umrankt wird. Geboren wurde er um 480 in der Gegend von Nursia, nahe dem malerisch gelegenen Norcia am Fuß der Sybillinischen Berge in Umbrien. Zeitweilig lebte er als Einsiedler, bevor das Kloster Monte Cassino, wo er angeblich seit 529 ansässig war, zu seinem Tätigkeitsfeld wurde. Auf diesen Benedikt, der in erster Linie in Italien lebte, geht die berühmte Benediktsregel zurück, also Bestimmungen, die sich die Mönche gaben, um in ihrer Gemeinschaft zusammen ihr Dasein organisieren zu können. Die Benediktiner wollten in ihren Klöstern sich keinem schematischen Zwang und Formalismus unterordnen, sondern jeder Mönch sollte nach seinen eigenen Fähigkeiten beurteilt werden und sich in die Gemeinschaft, die von einem gewählten Abt geleitet wurde, einbringen. Die Verbindung von Spiritualität und Ökonomie wurde zum vorbildhaften Leitfaden für die Benediktiner, bis heute bekannt unter dem immer wieder gern zitierten Begriffen von Bete und arbeite! Die Arbeit sollte nicht dazu dienen, einen Mehrwert zu erzeugen, sondern sie schützte in der Theorie in erster Linie vor dem Müßiggang und dem Nichtstun. Theorie und Praxis fielen gerade in dieser Hinsicht in späteren Zeiten auseinander, denkt man an die Prachtentfaltung einiger benediktinischer Klosteranlagen. Mönche und Nonnen verpflichteten sich, nach der Regel des Hl. Benedikt zu leben, wobei auch die Mönche keineswegs dem Priesterstand angehörten (was für die Nonnen nach dem Regelwerk der Kirche sich zur damaligen Zeit von selbst verstand).

Der steile Aufstieg der Benediktiner und ihrer immer weiter verbreiteten Regel fand jedoch nicht in Italien, sondern im Land der Franken unter den Merowingern und den Karolingern statt. In dieser Epoche wurde die Benediktsregel spätestens unter Kaiser Ludwig dem Frommen, dem Sohn und Nachfolger Karls des Großen, im Jahr 816 zur alleinigen Mönchsregel im Frankenreich erhoben, zeichnete sich also die enge Kooperation zwischen den Benediktinern und den Frankenherrschern deutlich ab. Monte Cassino dagegen verfiel zu einem mythischen Zentralort der Ordensgemeinschaft, nachdem die Langobarden bereits 577 diesen Ort des Glaubens zerstört hatten und Italien sich immer weiter von einer zentralen Herrschaft entfernte. Um 673/74 wurden die Gebeine des Hl. Benedikt angeblich aus Monte Cassino in das um 651 gegründete Kloster Fleury an der Loire überführt.

In der Zeit des relativen Niedergangs des Karolingerreiches nach dem Tod Karls des Großen und in der Zeit der einsetzenden Reichsteilungen erlebte auch das klösterliche Leben der Benediktiner einen Niedergang. Der kometenhafte Wiederaufstieg der Benediktiner setzte mit der Gründung des Klosters Cluny im Jahr 910 ein. Cluny, wunderschön in Burgund und damit recht weit entfernt vom Zentrum des westfränkischen Reiches um Paris herum entfernt gelegen, verdankte seinen Aufstieg einer weitsichtigen Entscheidung des Herzogs Wilhelm von Aquitanien. Dieser mächtige Territorialfürst verzichtete darauf, das Kloster unter seine eigene Kontrolle zu stellen und es seinen Absichten dienstbar zu machen, sondern stattete es mit zahlreichen „Freiheiten“ aus. Er entzog es dem westfränkischen Königtum, indem er es – ein genialer Schachzug – unter den Schutz des Papstes stellte. Der aber saß bekanntlich in Rom, hatte über die Stadt hinaus relativ wenig Einfluss in dieser Zeit, und so konnten das Kloster und der Herzog ungestört ihre eigenen Wege einschlagen. Zahlreiche Privilegien und Schenkungen führten zu einem unaufhaltsamen Aufstieg von Cluny, eine immer größere Anzahl von Tochterklöstern entstand, die jeweils von einem Prior verwaltet wurde. An der Spitze dieser imposanten Klostergemeinschaft der Benediktiner aber thronte der gewählte Abt von Cluny. Unter dem Abt Hugo I. (1049-1109) sollen mehr als 1.000 Häuser zur cluniazensischen Gemeinschaft gehört haben. Cluny war zu einem spirituellen und wirtschaftlichen Machtzentrum der abendländischen Christenheit geworden, mit einer Ausstrahlung, die weit über Frankreich hinausreichte und über Tochtergründungen auch das ostfränkische Reich der Ottonen und Salier erreichte. Derweil strömten Pilger aus ganz Europa zur Unterweisung nach Cluny. Cluny war derweil der größte Kirchenbau der Christenheit, als 1080 der dritte Bauabschnitt vollendet wurde, und wurde erst durch den Bau von St. Peter in Rom von dieser Stelle verdrängt. Die äußere Prachtentfaltung war auch eine Folge des Aufstiegs der Benediktiner, ganz ungeachtet davon, ob dies auch den ursprünglichen Regeln und Idealen der Gründergeneration entsprach.

Unter den Ottonen war es im ostfränkischen Reich bereits zu einer Symbiose mit den großen Abteien im Land gekommen. Die Klöster wurden eng in das königlich/kaiserliche Herrschaftssystem eingebunden, ohne dass sie ihre Eigenständigkeit einbüßten. Aber die Könige sahen sich - wie bereits erwähnt - als dezidiert christliche Herrscher, und da es demzufolge keinen Gegensatz zwischen der weltlichen und geistlichen Macht gab, lag das gemeinsame Handeln von Klöstern und Äbten und ottonisch-salischen Königen zum Vorteil beider „Institutionen“ nahe. Sehr viele Klöster erhielten den Status einer „Reichsabtei“, sie bekamen damit den unmittelbaren Schutz des Königs gegenüber den Ansprüchen Dritter zugesprochen. Auf diesem Weg konnte man dem Machtstreben mächtiger Herzöge, Grafen oder Markgrafen einen Riegel vorschieben. Die Ottonen und Salier knüpften an die Zeit der Karolinger an, die Klöster wurden Instrumente königlicher Verwaltung und der kulturellen Durchdringung des umgebenden Raumes. Das war sinnvoll und effektiv aus der Perspektive der Könige, denn sie konnten ja nicht gleichzeitig überall im Land präsent sein, um ihre Herrschaft zur Geltung zu bringen. Und die Äbte wussten mächtige Verbündete an ihrer Seite, um ihre eigenen Ziel zu verfolgen.

Von Burgund gelangten die Benediktiner nach Lothringen, wo die Abtei Gorze bei Metz ein bedeutendes Reformzentrum wurde. Von Gorze war es ein kleiner geografischer Sprung bis zu dem Kloster St. Maximin in Trier, in dessen Umfeld auch Frauenklöster entstanden. Für das weitere Erblühen von Frauenkonventen wurde alsdann das Kloster Hirsau im Schwarzwald ein wichtiges Sprungbrett. Die Anfänge Hirsaus lagen im 8. Jahrhundert, seit ca. 1050 ist sein Aufstieg zu beobachten, 1075 erlangte es seine vollständige Freiheit von den Grafen von Calw. Zum Hirsauer „Verbund“ kann man etwa 120 weitere Häuser rechnen, dabei gab es einen großen Anteil von Frauenklöstern. Daher stellt es keine große Überraschung dar, dass auch in der Reichsstadt Boppard im Jahr 1123 mit dem Kloster Marienberg ein Frauenkloster genannt wird. Durch königliche Privilegierung und Förderung sowie reiche Zuwendungen durch das Herrscherhaus der Salier wurden die Grundlagen für den Aufstieg gelegt. Auch der Anteil der Reichsstadt Boppard war nicht unerheblich, die Bopparder Reichsministerialen und die aufstrebenden Bürger leisteten ihren Beitrag, damit das Kloster Marienberg „zur bedeutendsten klösterlichen Niederlassung im Bopparder Umland“ (Volk, Boppard, S. 169) wurde. Der Salier Heinrich V. hatte sicherlich ein gestiegenes Interesse daran, die Königsherrschaft seines Hauses am Mittelrhein durch die Gründung eines Klosterkonvents der Benediktinerinnen wieder zu stärken, das eng mit den aufstrebenden Kräften in der Reichsstadt verbunden war. Die mit dem Königtum konkurrierenden Territorialherren blieben erstmal ausgegrenzt, und das Bündnis von geistlicher und weltlicher Macht, nach den Wirrungen der Herrschaft Heinrichs IV. zutiefst erschüttert, konnte unter Umständen noch einmal konsolidiert werden. Ob dies gelang, sollte die weitere Geschichte des Klosters Marienberg für die Region am Mittelrhein erweisen.

 

Literatur

Mirko Breitenstein, Die Benediktiner. Geschichte, Lebensformen, Spiritualität, München 2019.

Otto Volk, Boppard im Mittelalter, in: Boppard. Geschichte einer Stadt am Mittelrhein. Hg. von Heinz E. Mißling, Bd. 1, Boppard 1997, S.60-411.


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