Über uns

60 Jahre Geschichtsverein für Mittelrhein und Vorderhunsrück

 

Das 19. Jahrhundert war die Zeit, in der sich die Gesellschaft herausbildete, die uns auch heute noch mehr oder weniger vertraut ist. Die streng hierarchisch geordnete Welt des 18. Jahrhunderts verschwand allmählich, und das aufsteigende Bürgertum löste Schritt für Schritt den Adel ab. Dies alles geschah nicht ohne Friktionen und gewaltige Umbrüche, für die bis heute die Französische Revolution steht.


Vereine spielten bei der Transformation von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft eine gewichtige Rolle. Das 19. Jahrhundert wurde zum Jahrhundert der Vereine: wissenschaftliche Vereine, Kunst- und Musikvereine, berufliche und wirtschaftliche Vereine, Sänger- und Turnvereine, Wohltätigkeitsvereine, politisch und religiös ausgerichtete Vereine.


Waren zahlreiche Menschen zuvor - oft unfreiwillig – in Zünften organisiert oder gehörten durch Geburt bestimmten Standesorganisationen an, waren Vereine vom Prinzip der Freiwilligkeit und der Gleichberechtigung getragen: Vereinen konnte man ohne Rücksicht auf Geburt und Stand angehören, allein aufgrund von Bildung und Leistung, und es gab die Möglichkeit, auch wieder auszutreten. In den Vereinen trafen und organisierten sich Menschen verschiedener Stände, und sie hatten alle die gleichen Rechte und Pflichten, die allein durch die Vereinssatzungen vorgegeben waren. Vereine konnten aber auch zu politischen Instrumenten werden und in Konflikt mit der staatlichen Obrigkeit geraten und mit Verboten belegt werden.


Dies galt in der Regel aber nicht für die zahlreichen Kunst- und Geschichtsvereine, denen es ganz im Sinne des sich entwickelnden Bildungsbürgertums des 19. Jahrhunderts um die Vermittlung von Wissen und Bildung ging.


In diesem Sinn kann man auch den Geschichtsverein für Mittelrhein und Vorderhunsrück als einen „bürgerlichen Verein“ bezeichnen. Dies macht allein ein Blick auf die Berufe der Gründungsmitglieder des 1958 ins Leben gerufenen Vereins deutlich: Lehrer, Landrat, Professor, Major a.D., Oberstudiendirektor, Studienrat, Sparkassendirektor, Bürgermeister usw.

Bemerkenswert ist auch, dass sich nur drei Frauen unter den Gründungsmitgliedern befinden, eine Tendenz, die sich bis zur Gegenwart fortgesetzt hat, denn in der Regel waren nur wenige Frauen im Vorstand aktiv in die Vereinsarbeit eingebunden.


Gegründet wurde der Verein am 14. Februar 1958 auf Initiative des Bürgermeisters der Stadt Boppard, Dr. Alexander Stollenwerk. Es entstand die Kreisgruppe des Vereins für Geschichte und Kunst des Mittelrheins. Da die Kreisgruppe selbständig agieren sollte und dies in der Folgezeit auch tat, ohne dass es zu Konflikten mit dem Hauptverein kam, kann man also durchaus 1958 als die Geburtsstunde des Geschichtsvereins bezeichnen. Als Vereinssatzung übernahm die Kreisgruppe die Satzung des Koblenzer Hauptvereins. Entsprechend dem bürgerlichen Charakter des Vereins war es folgerichtig, dass der Oberlandesgerichtspräsident a.D. August Deynet zum ersten Vorsitzenden gewählt wurde, der die Geschicke des Vereins bis 1971 leitete.


Alle Gemeinden und Schulen aus der Region sollten dem Verein nach Möglichkeit beitreten. Mitglieder wurden gezielt angesprochen und für den Verein gewonnen. Der Jahresbeitrag lag bei 8 DM, verbunden mit dem Anspruch auf ein Jahrbuch. Daneben gab es die Option, als Mitglied ohne Stimmrecht für 3 DM dem Verein beizutreten, allerdings ohne Anspruch auf die Jahresgabe.

1958 hatte der Verein bereits über 100 Mitglieder, davon 67 mit dem Anspruch auf ein Jahrbuch, und bis 1976 stieg die Anzahl der Mitglieder auf mehr als 200.

Rasch wurden die Erkundungs- und Bildungsfahrten in die nähere Umgebung aufgenommen, wobei man sich zunächst auf den Kreis St. Goar konzentrierte. Die Ausflüge sollten alle zwei Monate stattfinden, und an diesen ehrgeizigen Plan hat man sich auch gehalten!

Wert gelegt wurde aber auch auf einen Aspekt, den die Vereine bereits im 19. Jahrhundert auf ihre Agenda gesetzt hatten: Geselligkeit wurde ausdrücklich gewünscht und die „Kaffeetafeln“ gehörten bald zum unverzichtbaren Bestandteil bei Fahrten und Vorträgen, eine Tradition, die sich bekanntlich bis in die heutigen Tage erhalten hat. Aus den Vereinsangehörigen sei, so Dr. Stollenwerk in einem späteren Manuskript, „wirklich eine Schar von Freunden geworden“.

Als Nachfolger von Oberlandesgerichtspräsident a.D. Deynet stellte sich in den Jahren 1971 bis 1975 Dr. Stollenwerk dem Verein zur Verfügung. Neben seiner administrativen Erfahrung und einem dichten Netzwerk an persönlichen Kontakten prägten zwei Eigenschaften seine Tätigkeit: zum einen verfügte er als anerkannter Heimatforscher über ein enormes Wissen, und zum anderen entwickelte er eine große Leidenschaft für die akribische Arbeit in den Archiven, vor allem im Landeshauptarchiv in Koblenz. Nachgelassene Notizen und eine Diasammlung, die er dem Verein vermachte, zeugen noch immer von seiner rastlosen und überaus ertragreichen Tätigkeit im Dienst der Erforschung unserer Region.


Gleichzeitig mit der Wahl von Dr. Stollenwerk verselbständigte sich der Verein mit dem Datum des 13.11. 1971 und wurde als "Geschichtsverein für Mittelrhein und Vorderhunsrück e.V." in das Vereinsregister beim Amtsgericht Koblenz eingetragen. Zugleich gab sich der Verein eine Vereinssatzung, die bis auf kleine Veränderungen bis zum heutigen Tag Gültigkeit besitzt. Mit einiger Berechtigung kann man daher auch 1971 als das „zweite“ Gründungsdatum des Geschichtsvereins bezeichnen.


Dennoch gestaltete sich das entstehende Vereinsleben nicht ohne kleinere Probleme und einem sorgenvollen Blick in die Zukunft. Bereits 1976 beklagte Dr. Stollenwerk, dass das „Alter der Mitglieder überdurchschnittlich hoch“ sei und es dem Verein nicht gelungen sei, „zahlreiche jüngere Mitglieder anzuwerben“. Zudem hatte Dr. Stollenwerk bereits zum Zeitpunkt seiner Wahl zu Protokoll gegeben, dass „dies nur eine vorübergehende Lösung sein könne“ und es im Interesse des Vereins darum gehen sollte, „jüngere Kräfte für die Leitung zu interessieren“.


Doch erst im März 1975 konnte er seinen Wunsch verwirklichen, als mit dem Studiendirektor Dr. Heinz-Erich Mißling ein Nachfolger als Vorsitzender gewählt wurde, während der scheidende Vorsitzende zum Ehrenmitglied gewählt wurde.

In den langen Jahren seiner Tätigkeit als Vereinsvorsitzender weitete Dr. Mißling die Aktivitäten des Geschichtsvereins noch einmal weiter aus. Die Fahrten und die bewährten Vorträge, für die immer wieder herausragende Referenten zu zahlreichen historischen Themen gewonnen werden konnten, wurden erfolgreich fortgesetzt.

Zunehmend wurden aber nun auch ferner liegende Ziele und Museen angesteuert, und die großen Studienreisen des Vereins nach Rom, Neapel, in die Provence, nach Florenz und Nancy, Sizilien, ins Elsass, in die damalige DDR, nach Amboise, Paris, an die Loire, nach Lothringen, Südtirol und Ungarn erweiterten den Aktionsradius des Vereins.

Intensiviert wurde auch die Herausgabe und Betreuung wissenschaftlicher Projekte. Die drei von Dr. Mißling herausgegebenen Bände zur Geschichte der Stadt Boppard sind bis heute ein unverzichtbares Grundlagenwerk. Dies gilt im gleichen Maße für die 4 Bände des von Dr. Michael Frauenberger zu verantwortenden Bopparder Bürgerbuchs und das Werk von Karl-Josef Burkard und Hildburg-Helene Thill „Unter den Juden. Achthundert Jahre Juden in Boppard“. Gerade die Herausgeberschaft des Geschichtsvereins für dieses Buch zeigte, dass der Verein gewillt war, sich auch mit schwierigen Themen der Geschichte Boppards wissenschaftlich auseinander zu setzen.


Überhaupt kann man sagen, dass der Geschichtsverein auch vor strittigen Beiträgen und Stellungnahmen zu aktuellen Entwicklungen in Boppard nicht zurückschreckte. So erhob er immer dann seine Stimme in der örtlichen Presse, wenn es um die Bewahrung des kulturellen Erbes der Stadt ging. Die Aufmerksamkeit richtete sich insbesondere auf den fortschreitenden Verfall der Abtei Marienberg und die Sorge, dass sich die Öffentlichkeit in Boppard an diesen schleichenden Prozess im Laufe der Jahre zu gewöhnen schien.

Im Mai 1973 war es daher nicht zufällig der Geschichtsverein, der den Festakt 850 Jahre Marienberg gestaltete und damit auch an die bedeutende mittelalterliche Geschichte der Stadt erinnerte. 1976 folgte die Ausstellung zum Thema „Die Kirche St. Severus“. Eine umfangreiche Dia-Sammlung zur St. Severus-Kirche gehört noch heute zum archivalischen Bestand des Geschichtsvereins.

Der Verein entwickelte sich in den Jahren der „Ära Mißling“ ohne Zweifel zu einer Instanz im kulturellen Leben der Stadt Boppard. Nicht alle Einwürfe des Vereins und seines Vorsitzenden fanden ungeteilte Zustimmung, manche stießen auf Widerspruch, aber der Verein wurde gehört.


Der Tod des Vorsitzenden im Jahr 2007, der bis zuletzt seine Schaffenskraft in den Dienst des Vereins gestellt hatte, bedeutete daher ohne Zweifel eine Zäsur in der Historie des Vereins. Doch stand mit seiner Frau Christiane Mißling eine  „natürliche“ Nachfolgerin zur Verfügung. Die studierte und überaus versierte Germanistin hatte ihren Mann bereits seit langen Jahren unterstützt, bei vielen Projekten des Vereins mitgewirkt und war mit den inneren Strukturen des Vereinslebens bestens vertraut. Daher konnte der Verein mit Frau Mißling als Vorsitzende (seit 2007) seine Tätigkeit auf allen beschriebenen Feldern nahtlos fortsetzen.


Nach dem frühen Tod von Frau Mißling 2012 geriet der Verein allerdings in eine schwierige Lage. Dies hatte auch damit zu tun, dass die Vereinsstrukturen in den  Jahren der „Ära Mißling“ sehr stark auf den jeweiligen Vorsitzenden ausgerichtet worden waren. Lange Monate suchte der geschäftsführende Vorstand nach einem neuen Vorsitzenden.

Durch die überraschende Kandidatur und Wahl des Historikers Dr. Rainer Lahme am 27. April 2013 zum neuen Vorsitzenden konnte der Verein seine gewohnten Aktivitäten wieder aufnehmen. So übernahm der Geschichtsverein 2017 das umfangreiche Zeitungsarchivs eines privaten Sammlers aus Holzfeld, das für die regionale Heimatforschung sicher noch als Grundlage der einen oder anderen Darstellung dienen wird.

Unübersehbar war aber auch, dass das „Goldene Zeitalter“ des Vereins der Vergangenheit angehörte. Die Altersstruktur des Vereins führte zu Einschränkungen bei den Fahrten, und neue Mitglieder konnten nicht ausreichend hinzugewonnen und für die Vereinsarbeit motiviert werden. Das allgemeine gesellschaftliche Umfeld, an dem viele Vereine zu zerbrechen drohen, wirkte sich eben auch auf den Geschichtsverein aus. Geselligkeit wird eben nicht mehr - wie im 19. Jahrhundert und auch noch im 20. Jahrhundert – durch die persönliche Begegnung im angestammten Verein gesucht. Sie findet eher individuell im Kontakt mit dem Internet oder über die Kommunikationsmöglichkeiten des Handys statt.


In seinem kurzen Rückblick auf die Geschichte des Vereins am 10. März dieses Jahres bedauerte Dr. Lahme diese alle Vereine mehr oder weniger betreffende Entwicklung, wies aber zugleich auf die weiterhin bestehende Existenzberechtigung eines Geschichtsvereins in einer Zeit hin, die sich zunehmend von ihrer eigenen Vergangenheit abgekoppelt habe und oftmals nur mehr in der Gegenwart bestehe.

Die Antwort auf den Verlust der Geschichte sei aber eindeutig und bedeute gerade für einen Geschichtsverein eine große Herausforderung, die ansonsten kaum jemand wahrnehmen würde.

Als Kulturträger am Mittelrhein und Vorderhunsrück blicke der Verein auf eine sehr erfolgreiche Tätigkeit zurück, und ohne diesen Verein wäre das kulturelle Leben in der Region mit Sicherheit ärmer gewesen. Wer zudem nicht wisse, woher er komme, der werde auch kaum wissen, wohin er zukünftig gehen solle.


In einer Welt zunehmender Globalisierung sei geistige Orientierung, und das heiße auch historische Orientierung, mehr denn je ein Erfordernis erstes Ranges. Der Geschichtsverein habe diese Aufgabe in der Vergangenheit angenommen, und er sollte dies auch in der Zukunft weiter tun.


Darüber hinaus gelte: Bildung, und das bedeute auch immer wieder historische Bildung, müsse sich nicht rechtfertigen, sie sei sich selbst genug. Bildung müsse nicht nützlich sein, sie sei ein Selbstzweck, und sie könnte sogar Glücksmomente freisetzen und für ein erfülltes Leben geradezu sinnstiftend wirken. In  diesem Sinn stehe der  Geschichtsverein in der Tradition der Aufklärung und des 19. Jahrhunderts, als die Geschichtswissenschaft in der Blüte ihres Ansehens gestanden habe.

Ungeachtet eines schwieriger gewordenen gesellschaftlichen Umfeldes habe daher auch der Geschichtsverein 60 Jahre nach seiner Gründung weiterhin eine wichtige Aufgabe in der Region am Mittelrhein und Vorderhunsrück zu erfüllen.



Text: Dr. Rainer Lahme


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