Gerade rechtzeitig zum Jahreswechsel ist unsere Jahresgabe erschienen.
Den Mitgliedern wird der Beitrag von Klaus-Georg Brager in den nächsten Tagen mit der Post zugestellt werden.
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Alles Gute für 2023 wünscht der Geschichtsverein!!!!
GNZ 32 (10.08.2022) – Glasgow, Fußball und der andere Siegfried von Gelnhausen
Für Fußballbegeisterte war im ersten Halbjahr 2022 gewiss ein Höhepunkt der Sieg von Eintracht Frankfurt über die Glasgow Rangers im Europa-League-Finale am 18. Mai in Sevilla. Eintracht – Endspiel – Glasgow. Da war doch noch etwas? Die eine Leserin, der andere Leser wird sich noch an das sagenhafte Spiel zwischen Eintracht Frankfurt und Real Madrid im Finale um den Europapokal der Landesmeister erinnern, das im Jahre 1960 – wieder an einem 18. Mai - im Hampden-Park Stadion in Glasgow vor sage und schreibe mehr als 130.000 begeisterten Zuschauern ausgetragen wurde. So viele Zuschauer haben in Europa kein Fußballspiel zuvor und danach jemals wieder live gesehen, das zudem noch zu den besten Spielen aller Zeiten zählt. Die Eintracht trat damals an als Deutscher Meister, nachdem sie am Sonntag, den 28. Juni 1959, im Berliner Olympiastadion die Kickers aus Offenbach mit 5:3 nach Verlängerung besiegt hatte. Zwei Tore für die Eintracht schoss Istvan Sztani. Ich bin damals in Berlin dabei gewesen, natürlich als Zuschauer. Und dann das Riesenspiel in Glasgow. Die ersten zwanzig Minuten gehörten der Eintracht. Richard Kreß schoss sie gar in der 18. Minute mit 1:0 in Führung, bevor dann die >Unbesiegbaren< aus Madrid um di Stefano und Pustàs das Spiel bestimmten. 7:3 für Real lautete der Endstand. So mancher Fan hat Istvan Sztani nachgetrauert, der die Eintracht nach Gewinn der Deutschen Meisterschaft Richtung Lüttich verlassen hatte: >>Mit Sztani wäre das Spiel womöglich anders verlaufen! <<
>Schön und gut<, wird jetzt die/der eine und andere unter den Lesern dieses Artikels denken, >doch was hat das für Fußballfans gewiss spannende Spiel in Glasgow vor 62 Jahren in dieser Gelnhausen Damals-Serie verloren? < Nun ja, es gibt zwei Gründe. Der ein liegt bei diesem Vorspann nahe. In der Mannschaft von Eintracht Frankfurt, die im Übrigen in den beiden Spielen des Halbfinales das Team der Glasgow Rangers zweimal hoch besiegt hatte, stand als überaus aktiver linker Läufer Dieter Stinka, der bis zu seinem Wechsel zur Eintracht 1958 für Gelnhausen 03 aufgelaufen war. Dieter Stinka wird an diesem 10. August 85 Jahre alt. Es gab schon Beiträge in dieser Damals-Reihe, deren Hauptperson deutlich jüngeren Datums war.
Doch das schottische Glasgow beherbergt einen Gelnhäuser, der wesentlich älter ist als Dieter Stinka – und der moderne Fußball. Um die sechshundert Jahre müssen es sein, so genau weiß man es nicht; denn trotz seines hohen Alters ist wenig über ihn bekannt. Und zudem wird er zumeist mit einem Gelnhäuser gleichen Namens verwechselt, der aber noch älter ist als er. Die Rede ist von Siegfried von Gelnhausen, von 1298 bis 1321 Bischof von Chur, dem Berater des Königs. Diesem habe ich schon einen eigenen Damals-Beitrag gewidmet (GNZ vom 02.09.2021). Vom Glasgower Siegfried von Gelnhausen ist noch weniger bekannt als von seinem Namensvetter, dem Bischof. Und das ist eindeutig ein Fehler!
Im fünfzehnten Jahrhundert war die reichsunmittelbare Grafschaft Katzenelnbogen am Mittelrhein straff organisiert in drei Landschreibereien (heute würde man Regierungsbezirke sagen) mit 24 Kellereibezirken und die Zollschreiberei St. Goar. Darmstadt war Nebensitz der Grafen und Wohnsitz des Junggrafen Philipp von Katzenelnbogen. Und quasi aus dem Nichts der Geschichte 1425 taucht dort Siegfried von Gelnhausen auf als Landschreiber von Darmstadt. Er kann damals nicht sehr alt gewesen sein. Sein familiärer Hintergrund in Gelnhausen ist unbekannt. Bestanden etwa Beziehungen zum Grafenhaus derer von Katzenelnbogen? Möglich; denn Philipps I. Mutter war eine geborene Else von Hanau und die Grafen von Hanau waren wiederum Pfandherren der freien Reichsstadt Gelnhausen. Oder war Siegfried das, was wir heutzutage einen >Überflieger< nennen? Auf jeden Fall sehen wir ihn zwei Jahre später schon als Zollschreiber in St. Goar. Eine hervorragende, gewiss auch lukrative Verwaltungstätigkeit. Die Rheinschifffahrt war die Haupteinnahmequelle der Grafen. Dass das Adelshaus derer von Katzenelnbogen Siegfried von Gelnhausen offensichtlich mit besonderem Wohlwollen bedachte, belegt folgendes Geschehen: Mitte Juli 1433, elf Jahre bevor er die Regentschaft des Adelshauses übernahm, brach Philipp I. von Katzenelnbogen, der Ältere genannt, von Darmstadt aus zu einer Pilgerreise ins Heilige Land auf. In seiner Begleitung befand sich auch Siegfried von Gelnhausen. Dieser schrieb nach geglückter Rückkehr 1434, es galt unter anderem einen Schiffsbruch zu überleben, wohl in den nächsten zwanzig Jahren einen Reisebericht unter der Überschrift >>Die stede vnd tage reyse czu dem helgen grabe< (Die Städte und Tagesreisen zum Heiligen Grab). Es handelt sich hierbei um einen der vier ältesten Reiseberichte in deutscher Sprache. Siegfried ist also, vor Ort leider weitgehend unbekannt, der erste Schriftsteller Gelnhausens. Sein Bericht, 1477 im Adelskreis vorgetragen, fand so großen Anklang, dass Graf Philipp I. diesen darauf von Erhart Warmeshafft zu einem Gedicht namens >Hodoeporicon< mit 2400 Versen umschreiben ließ.
Siegfried von Gelnhausen wohnte und wirkte in der Grafschaft Katzenelnbogen, wohl in St. Goar oder in Boppard, und stand noch im Jahre 1452 als gräflicher Zöllner in den Diensten Philipp I. Das letztgenannte Datum belegt ein Vermerk vom 28. Dezember 1452, nach dem ein - jetzt wörtlich: >Johann, Herr zu Winneburg und Beilstein, quittiert dem gräflichen Zöllner Siegfried von Gelnhausen zu Boppard über den Empfang der 20 fl. [= Florin = Gulden] Mannlehngelder, die ihm Graf Philipp v. K. [von Katzenelnbogen] jährlich zu Weihnachten vom Bopparder Zoll zu zahlen verpflichtet ist<. (zitiert ohne die Hinzufügungen in eckigen Klammern [] nach Karl E. Demandt, Regesten der Grafen von Katzenelnbogen, 4 Bände, 1953–1957. Unveränderter Nachdruck 2001, dort Regest Nr. 4765).
Der Reichtum derer von Katzenelnbogen hat Menschen, aber auch Kirchen und Orden angezogen. So gründete der Bettelorden der Karmeliten in Boppard 1262 ein Kloster. Dessen Kirche wurde im Laufe der nächsten Jahrhunderte immer mehr erweitert; denn die Karmeliten waren aufgrund ihrer Bürgernähe und Hilfsbereit-schaft in Boppard und Umgebung sehr beliebt. Viel spricht dafür, dass der Sakralbau als zweischiffige Hallenkirche mit neun Altären um das Jahr 1456 fertig gestellt worden ist. Ein besonderes Augenmerk der Kirche war die strahlende Farbenpracht der bunten Glasfenster in Nord- und Westwand des Seitenschiffes, welche Szenen aus der Bibel zeigten und die Marienverehrung der Karmeliter verdeutlichten. Im Sockelbereich der sieben Fenster wurde des jeweiligen Spenders gedacht. Die herrlichen Glasfenster, geschaffen zwischen 1440 und 1446, waren die künstlerische Leistung zweier Werkstätten, deren eine vermutlich im Raum Straßburg am Oberrhein ansässig war. Die zweite Werkstatt, die des sogenannten >Hausbuchmeisters<, hatte ihren Sitz am Mittelrhein. In ihr war, wie der Kunsthistoriker Hans Wentzel (1913 - 1975) in seinem Buch >Meisterwerke der Glasmeisterei<, Berlin 1954, dort Seite 72) schreibt: >>ein Tafelmaler und Zeichner von überragender Bedeutung auch für die Glasmalerei tätig<<.
Auch in unserer Gelnhäuser Marienkirche hat es Werke dieses Künstlers gegeben, die ihr, so Hans Wentzel, irgendwann bedauerlicherweise >>entfremdet<< worden sind. Ein Schicksal, das der Karmeliterkirche von Boppard ebenfalls widerfahren ist. Nachdem die Franzosen unter Napoleon das Rheinland Ende des 18. Jahrhunderts besetzt hatten, säkularisierten sie Kirchen und Klöster. So ging 1805 die Karmeliterkirche in den Besitz der Stadt Boppard über. Mangel an Geld, fehlendes Kunstverständnis und Desinteresse der Kommune führten letztendlich zur Versteigerung der Glasfenster in Einzeltranchen. Aus diesem Grunde befinden sich die mittlerweile weltberühmten Fenster heute weitverstreut teils in Privatbesitz, teils im Eigentum großer Museen. (Ausführlich und höchst lesenswert zur Geschichte dieser Glasfenster Achim Machwirth, >Der Karmel zu Boppard am Rhein, Die Glasmalereien der Karmeliterkirche<, herausgegeben vom Verkehrs- und Verschönerungsverein Boppard 1872 e.V.)
Der uns hier interessierende Sockelteil des Fensters, das heute als >Wurzel-Jesse- Fenster< bekannt ist, befindet sich neben weiteren Teilen des Fensters im Glasgower Museum >The Burrell Collection<. Der Name >Wurzel-Jesse< leitet sich ab von dem auf Teilen des Fensters dargestellten Stammbaum Jesus. Jesse war der Vater von König David, aus dessen Geschlecht – laut der biblischen Zählung achtundzwanzig Generationen später – Jesus hervorgeht. Die drei Glasfenster mit dem schlafenden Jesse über dem Sockelbereich wurden 1957 bei einem Brand in Glendale/Kalifornien zerstört. Die abgebildete Tafel mit dem Spenderpaar befand sich mittig unter den zerstörten Jesse-Fensterteilen. Auf ihr ist, kniend, ein - der kostbaren Kleidung nach - Paar höheren Standes zu sehen. Auf dem Spruchband, das Mann und Frau verbindet, sind die Worte zu lesen: >>Miserer mey deus un si uns gnedig. herre got bis uns barmhertzig<<, das heißt: >> Erbarme dich meiner, Gott, und sei uns gnädig. Herrgott sei uns barmherzig<. Der zweigeteilte Schild links zu Füßen des Mannes zeigt mit silbernem und rotem Hintergrund jeweils hälftig einen halben Adler und eine halbe Lilie. Der bereits erwähnte Kunsthistoriker Hans Wentzel hat am 2. November 1961 in einem Brief an Hansmartin Decker-Hauff berichtet, dass die Identifikation des Mannes als Siegfried von Gelnhausen auf einem einvernehmlichen Informationsaustausch von ihm mit Karl Demandt beruht; so Elizabeth Carson Pastan 2017 in >The four Modes of Seeing<, dort Seite 128. Achim Machwirth (>Der Karmel zu Boppard …<, dort Seite 51) verweist hinsichtlich der Annahme, dass auf der Spender-Scheibe Siegfried von Gelnhausen mit seiner Ehefrau zu sehen ist, auf Jane Hayward (1918 - 1994), die höchst angesehene Kunstkuratorin und Expertin für Glasmalerei am >Metropolitan Museum of Art<, New York, welche ebenfalls diese Meinung vertrat. Anderer Ansicht ist Gepa Datz (in: >Partenheim versus Boppard. Geschichte und Rekonstruktion zweier spätgotischer Verglasungen am Mittelrhein<, Dissertation, Johannes Gutenberg-Universität Mainz 2013, dort Seite 168), der annimmt, bei dem auf der Tafel gezeigtem Paar handele es sich um den Ratsherrn Cuno von Pyrmont und seine Frau Margarethe. Diese Ansicht überzeugt bei einem Vergleich der Wappen auf den vorstehenden Fotos nicht. Die linke Hälfte des Schildes zeigt das Wappen Gelnhausens. Zudem sind auf zwei Scheiben des sogenannten Pyrmont-Fensters der ehemaligen Karmeliterkirche (heute im Besitz der >Salve Regina University<, Newport/USA) bereits Cuno von Pyrmont mit seinen Söhnen beziehungsweise Margarethe von Pyrmont mit ihren Töchtern abgebildet. Dass eine Person mehrere der großen Kirchenfenster gespendet hat, ist höchst unwahrscheinlich.
Unbestritten ist jedoch, dass es sich bei dem Siegfried von Gelnhausen-Fenster um eine Tafel handelt, die das Paar zeigt, welches das Fenster teilweise oder vollständig finanziert hat. Die Spenden galten gerade im 15. Jahrhundert als Zeichen der besonderen Gläubigkeit und eines guten Gewissens der Gebenden. Die Finanzierung eines großen Fensters der Karmeliterkirche bot den Betuchten zudem eine – doppelte – Chance; nämlich zum einen die Möglichkeit ihre Seele durch Gedenken und Gebete der Ordensbrüder vor dem Fegefeuer zu bewahren und ihnen Unsterblichkeit zu sichern, und zum anderen die Gelegenheit den eigenen Reichtum zu belegen und die persönliche Bedeutung des Spenders hervorzuheben. So ist es ein überaus diplomatischer Schachzug von Siegfried von Gelnhausen gewesen, als hoher Beamter seinen Herrn, den Grafen von Katzenelnbogen, durch die großzügige Spende auf fromme Weise wissen zu lassen, wie ehrerbietig, gläubig und sittsam er sowohl zu ihm, wie auch zu dem angesehenen Karmeliterorden und seiner Frau stand.
(Dr. Gerd Eidam)
Die Staufer und der Ausbau von St. Peter zu Boppard. Buchvorstellung zu neuen Forschungsimpulsen über das Zusammenspiel von sakraler Bauarchitektur und gesellschaftlich-politischen Entwicklungen in der Stadt am Mittelrhein
Boppard, Begegnungen mit der Geschichte (Teil 4)
Dr. Rainer Lahme
Die Anzahl von überlieferten Besuchen von Königen und Kaisern des Mittelalters in Boppard gibt ohne Zweifel Hinweise darauf, wie es um die Macht der jeweiligen Dynastie (Ottonen, Salier, Staufer) und um das von ihr verwaltete Reichsgut am Mittelrhein bestellt war. Aus der Zeit der Salier ist kein einziger Aufenthalt in der Stadt dokumentiert. Ganz verwunderlich ist das nicht, wenn man nur einen flüchtigen Blick auf die großen Linien der Reichspolitik in dieser Zeit wirft. Vor allem die beiden letzten Herrscher dieser Dynastie, Heinrich IV. (1056 -1106) und Heinrich V. (1106 - 1125), sahen sich massiven Herausforderungen durch das an Kraft gewinnende Reformpapsttum und gleichzeitig durch die immer mehr Mitsprache in der Reichspolitik fordernden Fürsten gegenüber.
Wer kennt nicht noch aus der Schule den Bericht über den angeblich so demütigenden und gefahrvollen Gang Heinrichs IV. über die winterlichen Alpen bis vor die Tore der Burg Canossa, wo er nach einem von beiden Streitparteien ausgehandelten Verfahren von Papst Gregor VII. wieder in die Gemeinschaft der Kirche aufgenommen wurde und damit seinen Thron vorerst retten konnte. Bis heute diskutieren die Historiker mit Leidenschaft über diesen Vorgang, und mitten im erbittert geführten Kulturkampf des späten 19. Jahrhunderts äußerte der Reichskanzler Bismarck, indem er den preußischen Staat mit Heinrich IV. gleichsetzte, die immer wieder gern zitierten Worte: „Seien Sie außer Sorge, nach Canossa gehen wir nicht, weder körperlich noch geistig“.[1]
Vor diesem Hintergrund ist es durchaus wahrscheinlich, dass die Salier das umfangreiche Reichsgut am Mittelrhein nicht im gesamten Umfang erhalten konnten und ihre Machtbasis am Mittelrhein zu zerbröseln drohte. Darin kann eine Erklärung liegen, dass die Könige und Kaiser dieser Dynastie am Mittelrhein weniger präsent waren als ihre Vorgänger und Nachfolger, die Ottonen und die Staufer. Denn vor allem am Mittelrhein, einer geostrategisch äußerst sensiblen und geographisch-territorial zerklüfteten Region, gab es zahlreiche Mit- und Gegenspieler im Ringen um die politische und gesellschaftliche Vormachtstellung. Denn das Interesse an der Kontrolle und vor allem an den lukrativen Zolleinnahmen, die am schmalen Mittelrhein so günstig zu erwerben waren, lockte viele Parteien in diese Gegend. Da waren einmal die später in den exklusiven Kreis der Kurfürsten aufsteigenden Kirchenfürsten aus Trier, Köln und Mainz sowie der Pfalzgraf, der Vorläufer des Kurfürsten von der Pfalz. Aber auch die Grafen von Katzenelnbogen und die Sponheimer hatten ein Auge auf den Rhein geworfen. Nicht zu vergessen sind die Stifte und die großen Klöster, die in den Städten des Mittelrheins ihre jeweiligen Besitzungen aufgebaut hatten und über die im Mittelalter ja im Grunde genommen kaum existierenden territorialen Grenzen hinweg ihre mächtigen Netzwerke errichtet hatten. Ein Kloster, das räumlich relativ weit vom Mittelrhein entfernt lag, konnte durch seine Niederlassungen in Boppard daher durchaus seine Interessen am Mittelrhein entfalten und in der Region seine Rechte durchsetzen.
Vor allem die Staufer waren es, die nach der relativen Vernachlässigung des Reichsguts am Mittelrhein durch die Salier die Ansprüche der herrschenden Dynastie wieder verstärkt zum Ausdruck brachten. Der Mittelrhein wurde zu einem Stützpunkt der staufischen Herrschaft ausgebaut, das in der Salierzeit geschmälerte Reichsgut in dieser Region wieder verstärkt eingefordert, die Präsenz der Herrscher nahm wieder zu. Die wieder häufigeren Aufenthalte von Königen und Kaisern in Boppard dokumentieren dies.
Geht man davon aus, dass die Vernetzung der verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Akteure in der Region des Mittelrheins aufgrund der geographischen Gegebenheiten besonders eng und kleinteilig war, jeder der am Spiel um Macht und Einfluss Beteiligten bemüht war, auch sichtbare Zeichen seiner Bedeutung und seiner Ansprüche zu setzen, so ist es verständlich, dass Sakralbauten als dominierende Gebäude an zentralen Orten von herausragender Bedeutung waren. Sie waren bauliche Manifestationen, welche den Einfluss und den Rang ihrer Erbauer demonstrierten. Sie hatten mitunter Beziehungen zu Akteuren außerhalb der Region, sie standen in Beziehung zur jeweiligen Stadt, zu den Territorialherren des Umlandes, den Erzdiözesen von Mainz, Tier oder Köln oder standen in Kontakt mit befreundeten Stiften und Klöstern. Und im Falle einer Reichsstadt wie Boppard standen sie auch in einer mehr oder weniger direkten Beziehung zur herrschenden Dynastie im Reich, indem sie diese unterstützten oder dies eben nicht taten. Der bis in die heutigen Tage das Stadtbild von Boppard prägende Sakralbau von St. Peter/St. Severus gehört in diesem Kontext ohne Zweifel zu den bedeutendsten Bauwerken des Mittelrheintals und seine Baugeschichte liefert damit auch zugleich wichtige Erkenntnisse über die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in der Reichsstadt, wobei es methodisch etwas grenzwertig ist, hier überhaupt eine Unterscheidung zwischen der weltlichen und der geistlichen Ebene sehen zu wollen. Sakralbauten waren im Mittelalter eo ipso ein zentraler Teil der städtischen Gemeinschaft.
Überaus interessante Anregungen über die Baugeschichte von St. Peter/St. Severus und über die Datierung der verschiedenen Bauabschnitte (Langhaus, Chor, Gewölbe, Obergadenzone des Langhauses) kommen nun durch eine neue kunstgeschichtliche Veröffentlichung aus dem Jahr 2020. Dadurch werden die bisher in der Forschung angeführten Datierungsvorschläge kritisch hinterfragt. Ausgangspunkt ist ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zu verantwortendes Projekt „Regionale Vernetzung und überregionaler Anspruch. Mittelalterliche Sakralarchitektur am Mittelrhein".[2] Ziel des Projektes sollte es sein, die dortige Sakralarchitektur nicht allein um ihrer selbst willen zu untersuchen, sondern sie in den jeweiligen historischen Kontext einzubetten. „Das Forschungsprojekt sollte daher die Auswirkungen dieser von Dynamik und Referenz gekennzeichneten, spezifischen historischen Situation am Mittelrhein im hohen Mittelalter für die formale und repräsentative Gestaltung der dort errichteten Bauwerke untersuchen“.[3] Da die Baugeschichte von St. Peter/St. Severus im Mittelpunkt der von Hauke Horn im nun vorliegenden Forschungsband zu verantwortenden Ergebnisse liegt, trägt der von der Kunst- und Baugeschichte ausgehende Forschungsansatz – wie bereits erwähnt - auch zu neuen Überlegungen über die Geschichte der Reichsstadt Boppard bei.
In Bezug auf die von der Forschung bisher vorgeschlagenen Datierungen für die verschiedenen Bauphasen von St. Peter/St. Severus spricht Matthias Müller von einem „dringend revisionsbedürftigen Stand der Baugeschichte“.[4] Bisher sprach man von einem beginnenden Umbau der im 10. Jahrhundert entstandenen ottonischen Saalkirche zu einer größeren romanischen Kirche spätestens im 12. Jahrhundert. Dieser Vorgang habe sich über Jahrzehnte hingezogen. Mit dem Bau der beiden Türme habe man bald nach der Mitte des 12. Jahrhunderts begonnen. Für die Umgestaltung des Langhauses, die von Ost nach West erfolgte, setzte man die letzten Jahrzehnte des 12. Jahrhunderts an.[5] Abgeschlossen worden sei der Bau des Langhauses vermutlich in den zwanziger Jahren des 13. Jahrhunderts. 1225 habe man vielleicht die Weihe des Langhauses vorgenommen, verbunden mit dem Wechsel des Patroziniums von St. Peter zu St. Severus. Um 1220 sei auch der Ausbau des Chores bewältigt worden, vermutlich von einem Baumeister, der seine Netzwerke am Niederrhein gehabt habe. 1236 sei die Pfarrkirche noch nicht ganz vollendet gewesen, aber das Stadtsiegel von 1236 gebe mit seiner genauen Detailtreue einen guten Eindruck von der Gestalt der Kirche. Dem Siegel sei auch zu entnehmen, dass die Gewölbe des Langhauses erst nach der Fertigstellung des Chores vollendet worden seien. Manches spreche dafür, dass die Weihe des Chores im Jahr 1237 stattgefunden habe.[6]
Hauke Horn kommt in seinem Beitrag für den vorliegenden Sammelband zu einem abweichenden Vorschlag für die Datierung der Baugeschichte von St. Peter/St. Severus. Er legt keine neuen Schriftzeugnisse vor, sondern kommt durch seine sorgfältig dokumentierten Vergleiche mit anderen Sakralbauten in der Region zu seinen Schlussfolgerungen. Vor allem die historische Kontextualisierung[7] der Bauwerke führt den Autor zu neuen Erkenntnissen. Im dritten Viertel des 12. Jahrhunderts sei demnach mit dem sukzessiven Umbau der alten Kirche begonnen worden, wobei nach dem Bau oder Umbau der beiden Chorflankentürme mit dem Neubau des Langhauses begonnen worden sei, der sich bis zur Höhe des Obergadens bis um 1200 hingezogen habe. Nach 1200, einem Wendepunkt in der Baugeschichte von St. Peter/St. Severus, seien in einer veränderten architektonischen Formensprache, die sich am Vorbild des Niederrheins orientiert habe und sich von dem bisherigen Beispiel von St. Martin zu Worms gelöst habe, ab den 1210er Jahren die Obergadenzone des Langhauses gefolgt, wobei mit einem Abschluss dieses Bauabschnitts um 1230 auszugehen sei. Danach sei abschließend die Einwölbung des Mittelschiffs erfolgt, wohl in den 1230er Jahren.[8] Die Tatsache, dass der Langhausbau in der ersten Bauphase ungeachtet der späteren Konzeption als Emporenbasilika in gestalterischer und systematischer Hinsicht eng der übergeordneten Martinskirche in Worms folgte, sei „von der Literatur bisher nicht gesehen worden“[9]. Die Hypothese einer Weihe des Langhauses im Jahre 1225 wird von Horn eindeutig als „zu spekulativ“[10] zurückgewiesen. Weder für den Chor noch für das Langhaus sei ein Weihedatum überliefert.[11] Grob skizziert, sieht Horn den vorherrschenden Einfluss der Romanik für den unteren Teil des Langhauses, für die Türme und die Portale, während für den Chor und den oberen Teil des Langhauses sich die gotischen Stilformen des Niederrheins zunehmend ausgeprägt hätten. Der gestalterische Schnitt in der Baugeschichte sei auch im Innern des Sakralbaus unübersehbar. Die Bopparder Kirche bildet demnach auch für Horn „eine Art Synthese aus den monumentalen, relativ wuchtigen Formen der Romanik und den grazil – leichten Formen der französischen Gotik“.[12]
Hinter dem „Planwechsel“[13] in der Baugeschichte aber stand - wie bereits erwähnt - die wieder erstarkende Macht der Staufer am Mittelrhein und insbesondere auch in Boppard. König Heinrich VI. erwarb 1190 den zuvor abgetretenen Bopparder Zoll vom Martinsstift in Worms zurück für das Reich. Damit deutete sich das verstärkte Bemühen der Staufer an, die Reichsrechte in Boppard wieder in die eigenen Hände zu bekommen und die Position der Wormser Stiftsherren am Mittelrhein zu schwächen. Die entscheidende Zäsur kam aber wohl mit König Philipp von Schwaben (1198 – 1208). Nach dem Tod Kaiser Heinrichs VI. 1197 befanden sich die Staufer aufgrund des jugendlichen Alters von Friedrich II., der sich zudem weit im Süden in Sizilien befand, nördlich der Alpen in einer erbitterten Auseinandersetzung mit den Welfen, die Ansprüche auf den Thron anmeldeten. Philipp war in diesem Kampf dringend auf Verbündete angewiesen, denen er auch Zugeständnisse machen musste. Ein bedeutender Schritt in diesem Machtkampf fand in Boppard statt, und zwar mit großer Wahrscheinlichkeit in St. Peter: Boppard erlebte eine „ungewöhnliche Krönung“[14], als Ottokar von Böhmen in der Stadt am Mittelrhein von dem Staufer in einer kurzfristig anberaumten Zeremonie zum König von Böhmen erhoben wurde. Die Kanoniker des Stiftes feierten eine Memoria für den Staufer und seine Gemahlin, eine Ehre, die Philipp als einzigem deutschen Regenten zuteil wurde,[15] und vieles spricht dafür, dass Philipp von Schwaben dem Stift das hölzerne Triumphkreuz, das man bis heute in der Basilika St. Severus bewundern kann[16], übereignete. Horn stellt denn auch die rhetorische Frage, ob es nicht naheliegend sei, „dass das Königspaar den Bau der Kirche finanziell unterstützt hätte?“[17]
Das eindrucksvollste Zeugnis für das enge Zusammenspiel der staufischen Dynastie und dem Stift St. Peter/St. Severus bildet nach wie vor das Stadtsiegel, das zwischen 1228 und 1236 neu gestaltet worden war und worauf auch die ältere Forschung immer wieder hingewiesen hatte.
Horn sieht darin einen eindrucksvollen Hinweis der Nähe der Reichsstadt (Staufer) mit der Stiftskirche in seinem Zentrum und nennt es bemerkenswert, „dass sich die Reichsstadt Boppard auf einem repräsentativen Hoheitszeichen mit einem Sakralbau im Zentrum darstellen ließ“.[18] Diese Deutung unterstütze auch „der mächtige Reichsadler auf dem First der Kirche, der das Bild des Stadtheiligen Bischof Severus noch an Größe übertrifft, und einen offensichtlichen Zusammenhang zwischen Kirche und Reich darstellt“.[19]
Es ist hier nicht der Ort, näher auf die detaillierten kunsthistorischen Vergleiche und die daraus folgenden Einsichten für die Baugeschichte von St. Peter/St. Severus einzugehen, zumal die Kenntnisse des Verfassers dafür nicht ausreichen. Ziel der vorangegangenen Bemerkungen sollte es lediglich sein, am Beispiel der Baugeschichte und der damit einhergehenden Datierungsfragen die Aufmerksamkeit auf eine überaus anregende und fachkundige Publikation zu lenken, die für jeden an der Kunstgeschichte und der allgemeinen Historie des Mittelrheins Interessierten eine wahre Fundgrube an Wissen anbietet. Und wer zudem noch ein Freund von schönen und aufwendig verlegten Büchern ist, die man einfach gern zur Hand nimmt, der kommt voll auf seine Kosten.
[1] Zitiert nach: Jochen Johrendt, Der Investiturstreit, Darmstadt 2018, S. 104.
[2] Ute Engel, Hauke Horn, Matthias Müller, Einleitung, in: Hauke Horn, Matthias Müller (Hrsg.), Gotische Architektur am Mittelrhein. Regionale Vernetzung und überregionaler Anspruch, Berlin/Boston 2020, S.XIIIf.
[3] Ebd., S. XIV.
[4] Matthias Müller, Der „Übergangsstil“ als dialektische Form. Revision eines kunsthistorischen Terminus am Beispiel der mittelrheinischen Sakralarchitektur um 1200, in: Horn, Müller, Gotische Architektur am Mittelrhein, S. 31.
[5] Vgl. Boppard. Geschichte einer Stadt im Mittelalter, hrsg. von Heinz E. Mißling, Bd. 1 von Hans-Helmut Wegner, Otto Volk, Frank Maier, Boppard 1997, S. 125f. (Otto Volk)
[6] Ebd., S. 166f. Otto Volk fasst in seinem Beitrag den damaligen Stand der Forschung zusammen.
[7] Hauke Horn, Zwischen Konkurrenz und Kooperation. Zur politischen und sozialen Dimension mittelalterlicher Architektur im Mittelrheintal, in: Horn, Müller, Gotische Architektur am Mittelrhein, S. 42.
[8] Horn, Zwischen Konkurrenz und Kooperation, S. 50.
[9] Ebd., S. 58.
[10] Ebd., S. 49.
[11] Ebd., S. 50.
[12] Müller, Der „Übergangsstil“ als dialektische Form, S. 23.
[13] Horn, Zwischen Konkurrenz und Kooperation, S. 63.
[14] Michael Höffling, Boppard. Geschichten rund um eine Stadt am Rhein, Aachen 2018, S. 48.
[15] Horn, Zwischen Konkurrenz und Kooperation, S. 62.
[16] Ebd., S. 62.
[17] Ebd.
[18] Ebd., S. 62.
[19] Ebd., S. 63.
Bertha Falckenberg (1867-1951): Eine fast vergessene Bopparder Malerin
Von Hans Josef Schmidt
Einführung
Heiner Drumm – 2. Vorsitzender der Kirmesgesellschaft Horchheim und Vorstandsmitglied der Heimatfreunde Horchheim – kaufte im Frühjahr 2016 von Herrn Helmut Freise in Andernach eine Bleistiftzeichnung (16x23 cm) von (Koblenz-) Horchheim. Diese Zeichnung stammte von einer Bertha Falckenberg (1867-1951). Die Ortsangabe mit Datierung lautete „Horchheim Oct. 1891“. Heute befindet sich die Zeichnung, die bei einem der zahlreichen Ausflüge der Familie Falckenberg nach Horchheim entstanden ist, im Ortsmuseum der Heimatfreunde Koblenz-Horchheim e. V. Bei den Recherchen zur Biographie der Künstlerin ergab sich schnell der Nachweis zur Verwandtschaft mit der bekannten Koblenzer Familie Falckenberg, die im 19. Jahrhundert eine Musikalienhandlung betrieb und aus der auch der berühmte Theaterregisseur und Schriftsteller Otto Falckenberg (1873 Koblenz-1947 München) stammt.
Zur Biographie
Bertha wurde am 25.6.1867 in Köln geboren und ist am 8. Juni 1951 in Boppard gestorben.[1] Ihr Vater Johann Wilhelm Carl Falckenberg, Direktor der mittelrheinischen Bank Koblenz, war der Bruder des Vaters des Theaterregisseurs Otto Falckenberg, also war Bertha die Cousine von Otto.[2] Das Verhältnis war wohl von klein auf eng, denn Otto Falckenberg schreibt: „Als ich in die Schule kam und schreiben lernte, war das erste, was ich mit sechs Jahren für mich niederschrieb, ein hochromantisches Ritterstück: ein Ritter raubt das Ritterfräulein aus der Nachbarburg und will die Widerstrebende damit verführen, daß er sagte: ‚Bei uns gibt es mindestens einmal in der Woche Sauerkraut und Kartoffelklöße.‘ Dieses Stück wurde von mir und meiner Cousine Berta mit großem Pathos aufgeführt und meine sonst immer ernste und stille Mutter lachte Tränen. Freilich kamen ihr damals wohl die ersten Bedenken, ich möchte am Ende gar den Drang in mir spüren, Schauspieler zu werden.“[3] Falckenberg hat sich auch brieflich mit seiner Cousine Bertha ausgetauscht, als es 1906 um die Übernahme der Leitung des Königlichen Hofschauspiels in München im Jahr 1906 ging.[4] Abschriften bzw. Kopien der Korrespondenz zwischen Otto und Bertha aus den Jahren 1921, 1928 und 1942 befinden sich im Stadtarchiv Koblenz.[5] Als die Stadtbibliothek Koblenz am 15. Dezember 1987 in der Alten Burg eine Falckenberg-Soiree veranstaltete, wurde auch Bertha Falckenberg gedacht.[6] Die Mutter Sophie (1839 Kreuznach-1907 Koblenz) entstammte der bekannten Kreuznacher Winzer- und Weinhändlerfamilie Nedelmann.
Die Künstlerin
Berthas künstlerisches Schaffen wäre dennoch wohl weitestgehend unentdeckt geblieben, wenn nicht ein Zufallsfund auf dem Speicher des Hauses Falckenberg in Boppard - eine Kiste mit Malgerätschaften aller Art, dazu Gemaltem und Gezeichnetem – die Angelegenheit ins Rollen gebracht hätte.[7] Bertha besuchte die Höhere Evangelische Töchterschule (spätere Hildaschule) in Koblenz.[8] Schon in jungen Jahren war sie der Kunst und den Musen zugetan. Im April 1884 machte sie sich auf den Weg in die Schweiz und begann im Mai mit dem Zeichenunterricht. Am 3.6.1884 erfolgte die Anmeldung an der „Ecole des Arts“ in Genf. Es ist überliefert, dass sie am 9. August zum ersten Mal nach einer Fotografie zeichnete. In der Schweizer Zeit verstärkte sich ihr Kunstinteresse, sie nahm Klavierunterricht und interessierte sich aber auch für Geometrie. Begeistert war sie von den Ausflügen in die weitere oder nähere Umgebung. Die weitere künstlerische Ausbildung, so in der Portrait-Malerei, erfolgte in den Jahren 1886-1888 in Berlin in der Malschule des sehr berühmten Malers Carl Gussow. Nach einem ersten Besuch bei Gussow und der Begutachtung ihrer Zeichnungen wurde sie angenommen. Obwohl sie sich anfangs sehr schwertat, war Gussow aber der Meinung, „es würde sich schon machen, so übel wäre das Bild nicht.“ In der Zeichen- und Malschule des Vereins der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen zu Berlin in der Königgrätzer Str. 120 erteilte der Maler Hugo Louis (* 17.2.1847 Berlin) den Unterricht in Elementar- und Ornamentzeichnen. Bertha wohnte u. a. in der Fremdenpension von Frau von Blum und Fräulein von Brösigke.[9]
Späte Jahre und Lebensabend
Der Vater blieb bis zum Alter von 77 Jahren im Dienst als Direktor der Mittelrheinischen Bank in Koblenz und zog dann nach Boppard. Das 1867 erbaute Haus[10] in der Mainzer Str. 29 hatte er am 16.4.1898 (45.000 Goldmark) gekauft und im Februar 1899 bezogen. Spätestens in den 1890er-Jahren hat Bertha ihr künstlerisches Schaffen in größerem Umfang beendet. Die Horchheim-Zeichnung zählt somit schon zum „Spätwerk“. Mir ist nicht bekannt, wie Bertha mit ihrem Talent und ihrer Kunstfertigkeit in späteren Jahren ist. Fast ihr gesamtes künstlerisches Werk ist verloren gegangen. Bertha war nicht verheiratet, hat sich aber stets um die Eltern gekümmert und musste sehr bescheiden leben, da das Familienvermögen infolge der Inflation in den 1920er-Jahren verloren gegangen war.
Ihre Nichte Jula Lorentz hat das Andenken an ihre Person stets hochgehalten. So sprach sie am 16. Juni 1955 im Deutsch-Evangelischen Frauenbund Boppard im Hotel Spiegel zu dem Thema „Lebensbilder aus alter Zeit“.[11] Anknüpfend an eine Dankeskarte von Bertha für eine Osterfreude, in den alten Akten des Frauenbundes vorgefunden, führte Jula Lorentz aus: „Um diesem von Frl. Falckenberg damals ausgesprochenen Dank nachträglich eine äußere Gestalt zu geben, möchte ich aus dem Nachlaß meiner Tante eine kleine, antike Bronce-Glocke unserem Bund schenken. Mir war die Idee im letzten Jahr, als wir dem katholischen Frauenbunde eine Glocke verehrten, gekommen. Daß wir uns immer mit Klopfen an Tassen und Gläser helfen mußten, wollte mir nicht gefallen. Diese antike Glocke stellt in ihrem Ornament die Symbole der vier Evangelisten unter den Namen dar: Mathäus, darunter sein Zeichen der geflügelte Mensch; Markus, sein Symbol der Löwe; Lukas mit dem Stier als Symbol, Johannes mit dem Adler. Am unteren Ende ist eingraviert: Boppard, Juni 1955. Dem Deutsch-evangl. Frauenbund zum Andenken an Bertha Falckenberg, * 25. Juni 1867 + 8. Juni 1951“.
Die Bronzeglocke (12 cm hoch, unten 7,8 cm breit) konnte dank Vermittlung von Frau Gärtner bei der Evangelischen Gemeinde in Boppard ausfindig gemacht werden. Hier wird sie heute noch bei Besprechungen des Presbyteriums eingesetzt. Allerdings ist die o. a. Gravur am unteren Rand nicht festzustellen, aus welchen Gründen auch immer. Ein zweites Exemplar in identischer Ausführung befindet sich auf einem Schrank in der Praxis von Dr. Ivonne Paetz in Boppard.[12] Da die Praxis früher von Dr. Bury geführt wurde, liegt die Vermutung nahe, dass Jula Lorentz dieses Glöckchen ihrem Arzt und Vertrauten Dr. Bury geschenkt hat.
Jula Lorentz führte in ihrem Vortrag
weiter aus: „So kam sie [Bertha] 1898 nach Boppard mit ihren Eltern und dem schönen,
großen Schäferhund ‚Lux‘. Von Kind an hatte sie besondere Liebe und Verständnis
für die Natur und alles Getier. Unter ihrer Hand gediehen Pflanzen und Tiere,
mit ihrer Pflege heilten Krankheiten und Wunden bei ihren Pfleglingen. Ihre
Rassehunde brachten von Ausstellungen erste Preise heim. Ein besonderes
Anliegen war ihr der Vogelschutz. Sie scheute keine Mühe, wenn es galt, ein
Vogelnestchen zu schützen durch Anbringung von Dorngestrüpp oder dergl. Eine
schriftliche Beschwerde über das frühe Krähen ihres Hahnes fiel mir noch dieser
Tage in die Hand. Da stand die Aufforderung, das Tier an seinem frühen
Morgenkrähen zu hindern. Es war dann immer ein besonderer Spaß, wenn abends die
Jagd nach dem an Freiheit gewöhnten Hahn losging, bis endlich das erstaunte
Tier im dunklen Ställchen eingesperrt war. Aber das Beste an dieser Geschichte
war die Tatsache, daß der klageführende Nachbar sich morgens um 4 Uhr den
Wecker stellte, damit er ja das stolze Krähen des Hahns nicht verpasste. Neben
ihrer Naturverbundenheit trat schon früh ein ausgesprochenes Mal- und
Zeichentalent hinzu, das gepflegt und gefördert wurde. Die Pensionszeit in der
Schweiz gab der 18jährigen außer zu Sprachstudien die Gelegenheit, sich auf der
Kunstschule in Genf weiterzubilden. Später folgten dann anderthalb Jahre in Berlin
im Atelier des bekannten Malers Gussow zur Ausbildung im Portraitmalen in Oel“.
Der Vortrag endete mit den Worten: „Aus allen Sorgen und Schwierigkeiten, die
die Nöte der Zeit und der Verlust des Vermögens für sie mit sich brachten,
konnte Bertha Falckenberg sich in die Welt der Kunst flüchten, immer lebhaften
Geistes und voller Interesse für Wissenschaft, Kunst und Politik“.
Nichte Jula Lorentz-Falckenberg, geboren am 19.7.1890 in Siegburg und am 11.6.1975 in Boppard gestorben, war ebenfalls eine bekannte Persönlichkeit in Boppard. Sie zog im Jahr 1911 mit ihrer Mutter Auguste Lorentz geb. Falckenberg (*26.5.1861 Köln) von Berlin in die Emser Straße 80 in Pfaffendorf, 1931 in die Emser Straße 53 (Rheinhotel).[13] Letztmalig wird sie 1940 im Adressbuch der Stadt Koblenz genannt. Ab 1.10.1944 wohnte sie in Boppard,[14] wo sie bis zu ihrem Tod im Haus in der Mainzer Straße lebte.
Bertha Falckenbergs Leben war in den letzten Jahren nicht einfach, sie war kränklich und lebte von der öffentlichen Fürsorge.[15] Ohne die Unterstützung durch viele Bürgerinnen und Bürger von Boppard wäre Ihr Leben noch schwieriger gewesen. Ihr Name ist heute in Boppard nur noch wenigen bekannt. Im Museum der Stadt sind keine Informationen bzw. Werke über bzw. von Bertha Falckenberg bekannt bzw. vorhanden. Das Haus in der Mainzer Straße 29 steht allerdings noch und wird von Friedhelm Freise, dem Sohn der Erbin Gudrun Freise, bewohnt. Die Familiengrabstätte auf dem Bopparder Friedhof ist allerdings schon vor vielen Jahren undokumentiert abgeräumt worden.
In ihrem letzten Willen vom 9. August 1949 setzte Bertha Falckenberg für den Fall ihres Ablebens die Kinder ihrer verstorbenen Geschwister zu gleichen Teilen als alleinige Erben ein: Jula Lorentz, Boppard; Karl Lorentz, Koblenz-Pfaffendorf; Edwin Lorentz, Brensbach/Odenwald; Hermann Falckenberg, Bünde/Westfalen. Im Inventarverzeichnis wurde auch ein altes Tafelklavier aus dem Jahr 1825 aufgeführt. Nach Auskunft von Helmut Freise ist dieses Klavier, das den Firmennamen des Urgroßvaters trug, der es den Großeltern 1858 zur Hochzeit geschenkt hatte, später an das Folkwang-Museum Essen abgegeben worden.
Was bleibt?
In Boppard gibt es noch Werke von Bertha Falckenberg. Im Besitz von Frau Gärtner sind folgende Werke, die auf dem Speicher des Falckenberg-Hauses im Nachlass von Jula Lorentz gefunden wurden:
Öl auf Malkarton:
- Mädchen mit Kopftuch und rotem Schal;
- Porträt 1888 (dieses Bild stand immer auf einer Staffelei im Wohnzimmer von Jula Lorentz);
- Dame mit Rüschenhäubchen 1888 (H. oder M. Nein?);
- Junge Zigeunerin (weiße Bluse, rot-schwarz-kariertes Kopftuch, orange-roter Schal) 15.1.1887;
- Mutter (?) der jungen Zigeunerin (weiße Bluse und rot-schwarz-kariertes Kopftuch) 4. Dec. 86;
- Junge Frau in Tracht (Haube und großer weißer Kragen um die Schultern) 20.02.87;
- Mädchenmit Ponyfrisur und rosa Schal (auf der Rückseite handschriftlicher Eintrag von Jula Lorentz: Evtl. Gräfin Kaunitz?);
- Ölmalkreide: Klausenstraße (Dieblich); (s. Abb. 8)
- Aquarell: Klausenburg bei Koblenz-Ehrenbreitstein, signiert Falckenberg 86. (s. Abb. 9)
Dazu kommen noch 10 Ansichtskarten an Bertha Falckenberg bzw. ihre Eltern aus den 1890er Jahren, wobei u. a. auch der Elisenhof bei (Koblenz-) Arenberg als Adresse angegeben ist. Frau Gärtner besitzt außerdem einen Alabasterschmuckkasten aus dem Besitz der Urgroßeltern von Bertha Falckenberg. Dem Kasten liegt eine Visitenkarte von Bertha bei, die auf der Rückseite folgenden Text von unbekannter Hand enthält: „Dieser Schmuckkasten stammt von Sophie Nedelmann, geb. Herff [sic!]. Sie erhielt ihn als Brautgeschenk von Karl Nedelmann im Jahre 1832.[16] Sie lebte damals auf der Gutleutemühle bei Kreuznach. Der Kasten besteht aus Alabaster. Auf den Deckel liess der Bräutigam die Gutleutmühle mahlen [sic!], das Brautpaar mit einer dritten Person, vielleicht ihrer Mutter oder Freundin, im Vordergrund.“
Abb. 10-12
Auf die Werke im Besitz von Herrn Freise in Andernach soll an dieser Stelle auch noch einmal hingewiesen werden.[17] Im Besitz der Familie Hermann Spelten in Dieblich-Mariaroth befindet sich eine Aquarellzeichnung von einem Haus in Mariaroth, das heute aber nicht mehr existiert. (s. Abb. 13) Sie ist datiert „dat. 19.7. 87“ und hat auf der Rückseite folgenden Text: „Den Neubürgern von Mariaroth, Weihnachten 1975, Tante Irene“.[18] Schließlich ist noch auf ein Aquarell mit der Darstellung einer Moosrose im Besitz von Christian Simon in Boppard hinzuweisen. (s. Abb. 14)
Es wäre denkbar, um nicht zu sagen wünschenswert, wenn „als Echo“ auf diesen Artikel noch weitere Werke von Bertha Falckenberg ans Tageslicht kämen. In einem Nachruf aus Berthas Freundeskreis heißt es: „Bertha Falckenberg war eine jener großen, tiefen und vielseitigen Naturen, die schlechthin in ein gut bürgerliches Milieu nicht passen. Zu ihr gehörte bei ihrer Vielseitigkeit ein bißchen ‚Bohèmewirtschaft‘ […] Solch reiches Leben ist unsterblich in seinen geschaffenen Werken und immer lebendig allen, die diesem Leben nahestanden“.[19] Bertha Falckenberg hat zu Lebzeiten immer eine Ausstellung ihrer Werke abgelehnt. Obwohl schon im Jahr 1951 die Anregung kam, das Werk dieser Künstlerin zu präsentieren, [20] ist es damals und auch in späterer Zeit meines Wissens nicht dazu gekommen. Vielleicht sollte man diesen Gedanken erneut aufgreifen. Wäre es nicht ein schönes Zeichen, wenn Bertha Falckenberg einen würdigen Platz in der Geschichte ihrer Heimatstadt Boppard fände?
Anmerkung:
Beiträge zu Bertha Falckenberg von Hans Josef Schmidt finden sich im Blog des Stadtarchivs Koblenz unter der Adresse https://stadtarchivkoblenz.wordpress.com sowie ein Printbeitrag in Rund um Boppard, Nr. 9 vom 5. Mai 2021, S.15-17.
Eine gute Zusammenfassung bietet auch: Hans Josef Schmidt, Bertha Falckenberg: Eine Künstlerin wird neu entdeckt, in: Rhein-Zeitung, Ausgabe Koblenz, Nr. 79 vom 6. April 2021, S.20 (Koblenz extra).
Verfasser: Hans Josef Schmidt
Leiter des Stadtarchivs Koblenz i. R.
Bächelstr. 7
56076 Koblenz
Tel. 0261 – 408563 jopa.schmidt@gmail.com
[1] Freundliche Auskunft des Standesamtes Boppard an das Stadtarchiv Koblenz vom 19.8.2016 (Standesamt Köln I Nr. 1948/1867 bzw. Standesamt Boppard (Nr. 100/1951). Für Informationen und Anregungen bin ich Marie-Luise Gärtner (Boppard), Helmut Freise (Andernach) und Michael Koelges (Stadtarchiv Koblenz) zu großem Dank verpflichtet. Frau Gärtner unterstützte Irene Müller (Nürnberg), die als Testamentsvollstreckerin nach dem Tod von Jula Lorentz fungierte. Herr Freise hat die Zeichnung 2016 an Heiner Drumm verkauft. Im Besitz von Herrn Freise, dessen Mutter das Patenkind von Jula Lorentz war, sind noch weitere Gemälde sowie Abschriften von Briefen und eine biografische Materialsammlung. Weitere Unterlagen befanden sich bei Henning Wenzel, einem Neffen von Bertha Falckenberg, in Siegen, darunter zahlreiche Unterlagen (Briefe aus der Berlin-Zeit 1886-1888, Tagebuch 1883-1887. In Wenzels Besitz waren auch das Ölbild Auguste Lorenz geb. F. „im Ballkleid“ und ein Skizzenbuch von 1876 („natürlich sehr kindlich“), das Pastellbild „Dame mit dem Umschlagtuch“ war im Besitz des Vetters Ernst Wenzel in Dortmund und zeigte dessen Schwester Sophie W., spätere Frau Werth.
[2] Kurzbiographien vom Mittelrhein und Moselland 1967-1975, S. 113: Bearbeiter Alexander Stollenwerk, Boppard. Zum damaligen Zeitpunkt fanden sich ihre Werke durchweg in Privatbesitz; Benner, Ferdinand: Wer war Bertha Falckenberg? In: Rund um Boppard 30.11.2007, Nr. 48, S. 18.
[3] Petzet, Wolfgang: Otto Falckenberg. Mein Leben – Mein Theater. München/Wien/Leipzig 1944, S. 29.
[4] Euler, Friederike: Der Regisseur und Schauspielerpädagoge Otto Falckenberg. München 1976 (Münchener Universitätsschriften – Fachbereich Geschichts- und Kunstwissenschaften – Münchener Beiträge zur Theaterwissenschaft Bd. 5). S. 11.
[5] Stadtarchiv Koblenz N 19 (Zug. 81/4 a) – Nachlass Falckenberg.
[6] Rhein-Zeitung 11.12.1987, Nr. 287: Otto Falckenberg aus Koblenz. Die Kusine Bertha teilte seine Leidensschaft (sic!). Erinnerungen an einen Großen des Theaters.
[7] Freise, Helmut: Bertha Falckenberg. Erinnerungen an eine Bopparder Bürgerin. In: Rhein-Hunsrück-Kalender, Heimatjahrbuch des Rhein-Hunsrück-Kreise 1987, S. 127-132; ders.: Aus einer alten Mappe. In: Rhein-Lahn-Kreis. Heimatjahrbuch 1989, S. 207-209 (betr. vier Zeichnungen bzw. ein Aquarell von Bertha Falckenberg betr. Klostermühle Arnstein, Margaretenkirche Arnstein-Weinähr und ein Kinderportrait Marie Jacobi aus Weinähr/Gelbach); ders.: Nostalgische Rheinreise von Mainz bis Köln. Aquarelle, Zeichnungen, Lithographien 1800-1950. Andernach 2015 (Andernacher Beiträge 30), S. 57 (mit Abb. der Horchheimer Bleistiftzeichnung).
[8] Schulhefte aus dieser Zeit mit Aufsätzen etc. aus dem Deutsch-Unterricht im Besitz von Herrn Freise, Andernach.
[9] Die Familie von Brösigke war mit der Familie Falckenberg verwandt.
[10] Nach Information von Helmut Freise befindet sich diese Jahreszahl in einem Stein im Haus.
[11] Kopien im Besitz von Helmut Freise; s. a. Stadtarchiv Koblenz, wie Anm. 5; Unterlagen des Deutsch-Evangelischen Frauenbundes Boppard befinden sich in der Archivstelle Boppard des Archivs der Evangelischen Kirche im Rheinland (Best. 5 WV 024 B).
[12] Frdl. Information von Frau Gärtner, Boppard, vom 12.07.2020.
[13] Freundliche Mitteilung von Herrn Koelges, Stadtarchiv Koblenz, vom 16.05.2020.
[14] S. a. Helmut Schnatz: Der Luftkrieg im Raum Koblenz 1944/45. Eine Darstellung seines Verlaufs, seiner Auswirkungen und Hintergründe. Boppard am Rhein 1981 (Veröffentlichungen der Kommission des Landtages für die Geschichte des Landes Rheinland-Pfalz 4), S. 278 mit Anm. 68, S. 286 mit Anm. 107/108, S. 319 mit Anm. 227. Jula Lorentz schildert hier ihre Erlebnisse beim schweren Bombenangriff auf Koblenz am Abend des 6. November 1944 und ihre Rückfahrt mit dem Triebwagen nach Boppard.
[15] Landeshauptarchiv Koblenz Best. 700,250 (Nachlass Wilhelm Hütten, Boppard) Nr. 27 Bl. 63 a: Brief von Bertha Falckenberg an Bürgermeister Dr. Alexander Stollenwerk vom 20.5.1915 mit der Bitte um Unterstützung; s. a. Stadtbibliothek Boppard – Kartei Dr. Alexander Stollenwerk. Gymnasiallehrer Dr. Hütten wohnte in den 1950er Jahren in der ersten Etage des Hauses Falckenberg – frdl. Information von Frau Gärtner, Boppard, vom 12.07.2020.
[16] Die Jahreszahl ist später ergänzt. Die Personenzuordnung ist allerdings unkorrekt. Julie Christine Herf (1793-1864) - und nicht Sophie Nedelmann geb. Herff - war mit Johann Carl Christoph Nedelmann (1788-1872) verheiratet. Sie sind die Urgroßeltern von Bertha Falckenberg. Durch Gebrauchsspuren ist die Zeichnung auf dem Deckel kaum zu erkennen. Nähere Informationen zur Familie Nedelmann finden sich im Stadtarchiv Koblenz und bei Herrn Freise in Andernach (s. a. Anm. 1). Die eigentlichen Familienpapiere sind im Besitz von Hedwig von Velsen-Zerweck geb. Nedelmann, Neversdorf.
[17] S. Anm. 1.
[18] Irene Müller (Nürnberg). Frau Müller war Testamentsvollstreckerin bei Jula Lorentz; s. a. Anm. 1.
[19] Haack, Georg (Lönshof/Alken): Abschied von der Malerin Berta (sic!) Falckenberg. In: Rhein-Zeitung – Ausgabe N/St. Goar – 23.8.1951, Nr. 201, S. 4; s. a. Heidedichter Hermann Löns lebt im Baybachtal fort. Lönshof mit umfassender Sammlung persönlicher Erinnerungsstücke. In: Rhein-Zeitung 30.6.1964 Nr. 148; der Lönshof bei Burgen im Baybachtal, auf dem Haack lebte, ist 1979 abgebrannt; s. Georg Giesing: Fluchtweg Baybachtal. Der legendäre Widerstandskämpfer Peter Zeutzheim entkommt der Gestapo. Zell 2010, S. 171.
[20] Haack, wie Anm. 19.
Die Geschichte des sogenannten Templerhauses aus wissenschaftlicher Sicht
von Kent Michaelis
Gerade im Zeitalter von mitunter recht populären Fernsehdokumentationen, in denen dem Zuschauer eine eingängige Mischung von „history“ und „mystery“ präsentiert wird, ist es geboten, dass sich Wissenschaftler den methodischen Erfordernissen ihres jeweiligen Faches bewusst bleiben. Grundlage ihrer Arbeit sind Fakten und schlüssige Interpretationen.
Daher dankt der Geschichtsverein für Mittelrhein und Vorderhunsrück Herrn Kent Michaelis für seine folgende kurze Darstellung zur Historie des so genannten Templerhauses in Boppard. Es handelt sich um eine Zusammenfassung ausgewählter Gesichtspunkte aus seiner Bachelorarbeit, die 2018 im Fachbereich 2 (Philologie/Kulturwissenschaften) der Universität Koblenz-Landau entstanden ist.[1]
Es ist zugleich ein Beitrag in der vom Geschichtsverein initiierten kleinen Reihe „Boppard – Begegnungen mit der Geschichte“. Es ist eben so, dass eine wissenschaftliche Betrachtung der Dinge in der Regel recht nüchtern ausfällt und nicht die Möglichkeit bietet, die Geschichte so darzustellen, wie man sie sich gern vorstellt.
Dr. Rainer Lahme
Geschichtsverein für Mittelrhein und Vorderhunsrück
Das Europäische Kulturerbejahr 2018 ist zu Ende gegangen und man kann durchaus den Eindruck bekommen, dass – wenngleich eher zufällig - in jenem Jahr auch Bopparder Denkmale wieder mehr Aufmerksamkeit erhalten haben: Neben dem geplanten Projekt zum Kloster Marienberg und der weitergehenden Diskussion um das Kutscherhaus ergaben sich auch am sogenannten Templerhaus (Boppards ältestem erhaltenen Wohnhaus) nach langer Zeit wieder Neuigkeiten. 2018 fand nach 15 Jahren wieder ein Eigentümerwechsel statt und es ist zu hoffen, dass es dem neuen Besitzer in enger Abstimmung mit den Behörden der Denkmalpflege diesmal gelingt, eine adäquate Nutzung für das ‚Templerhaus’ zu finden und eine pflegliche Instandsetzung herbeizuführen, bei der die historische Substanz mit ihrem nicht zu ersetzenden Quellenwert weitestgehend erhalten bleibt. In der jüngeren Vergangenheit hat Boppard leider zahlreiche Baudenkmale durch Zerstörung verloren, denkt man etwa an das Gasthaus ‚Zur alten Burg’ (Abriss 1972 für den Neubau der Volksbank am Marktplatz), die Ursulinenschule (Abriss 2004) oder das Hotel ‚Hirsch’ (Abriss 2011).
Der Verfasser, Kent Michaelis, 1995 in Boppard geboren, hat 2018 sein Bachelorstudium in den Fächern Geschichte und Kunstgeschichte abgeschlossen und in seiner Bachelorarbeit das Bopparder ‚Templerhaus’ nähergehend untersucht, aus der an dieser Stelle einige Erkenntnisse und Thesen vorgestellt werden sollen. Die Abschlussarbeit kann in der Stadtbücherei eingesehen werden, auch eine digitale Publikation ist zeitnah geplant.
Der Name ‚Templerhaus’
Zum Einstieg sei die Frage gestellt, ob der Name ‚Templerhaus’ eine historisch gerechtfertigte Bezeichnung für das spätromanische Gebäude in der Seminarstraße ist.[2] Prinzipiell können sich im Volksmund Bezeichnungen für Gebäude, Straßen und Fluren sehr lange (nicht selten auch aus mittelalterlicher Zeit) erhalten, denkt man in Boppard etwa an ‚Angert’ oder ‚Proffen’.[3] Im Falle des ‚Templerhauses’ findet sich in mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Quellen aber keine Erwähnung von Besitzungen der Templer in Boppard und es ist davon auszugehen, dass die Bezeichnung eine jüngere Erfindung ist. Erstmals taucht der Begriff 1828 in einem Reiseführer gesichert auf, wonach es in Boppard, St. Goar und Bacharach einen „Tempelhof“[4] gegeben haben soll. Sogenannte ‚Templerhäuser’ finden sich noch in weiteren Städten, etwa in Köln (Rheingasse 8, heute als Overstolzenhaus bezeichnet) und Hildesheim (Historischer Marktplatz, auch: Harlessem-Haus) – für diese beiden Fälle konnte wissenschaftlich festgestellt werden, dass der Name ungerechtfertigt und eine jüngere Zutat ist. Dies geschah im 19. Jahrhundert nicht selten, da eine allgemeine Faszination, Verklärung und Mystifizierung des Templerordens (wie zugleich auch des Freimaurertums) aufkam, die stellenweise bis heute anhält.[5] Diese neue und spektakuläre Zuschreibung für das Bopparder Gebäude passte auch gut zur Begeisterung der Romantik für das Mittelalterliche und Geheimnisvolle, denn es war schon um 1800 für Zeitgenossen ein sehr altes Haus, zumal in einem romanischen Baustil, den einige als „merkwürdig“[6] empfanden.
Johann Nicks These vom Deutschordenshaus
Was war das ‚Templerhaus’ aber dann stattdessen? Seit 1868 scheint dies geklärt zu sein, denn überwiegend hatte sich die These des Pfarrers und Heimatforschers Johann Nick (1832-1903) durchgesetzt, die erstmals in einem Aufsatz von M. Scheins publiziert wurde:[7] Pfarrer Nick machte das Haus zum Gegenstand einer Schenkungsurkunde, wonach Lukkardis von Waltmannshausen dem Deutschen Orden 1234 ein Haus in Boppard vermacht habe. Die Bezeichnung ‚Templerhaus’ hielt er demnach ebenfalls für einen Irrtum – seiner Ansicht nach habe der Bopparder Volksmund durch Verwechslung des Deutschen Ordens mit dem Templerorden schlichtweg einen falschen Namen verwendet.
Daran, dass es einen Hof des Deutschen Ordens in Boppard gab, bestehen keine Zweifel – seine Existenz wird durch weitere Urkunden bestätigt[8] und noch mindestens bis 1552 wird er erwähnt[9]. Dass Nick aber mit der Gleichsetzung von Deutschordenshaus und ‚Templerhaus’ recht hat, ist hingegen stark zu bezweifeln (was bislang nur Einzelne taten).[10] Nicks Behauptung, dass eine Namensverwechslung stattfand, ist dadurch, dass der Name ‚Templerhaus‘ als fiktiv gilt, nicht mehr haltbar. Es fehlen schlichtweg die Beweise dafür, dass sich die Urkunde ausgerechnet auf das sog. ‚Templerhaus‘ bezieht, denn sie liefert weder eine genauere Ortsangabe (etwa eine Nennung von Nachbarn oder des Stadtviertels) noch eine eindeutige Beschreibung des Gebäudes (das lediglich als „domus curte“[11], ‚Haus mit Hof’ bezeichnet wird). Den Bopparder Bürgern des 13. Jahrhunderts hingegen war noch ohne präzisere Angabe allgemein geläufig gewesen, welches Haus der Lukkardis hiermit gemeint war. Allenfalls das Datum der Urkunde (1234) ließe nun noch einen vagen Bezug zum Alter/Baujahr des Templerhauses (vermutlich errichtet zwischen 1200 und 1240) zu, dies könnte jedoch genauso gut auf beliebige andere Bopparder Stadthäuser des 13. Jahrhunderts zutreffen. Von diesen hat sich eben vielmehr zufällig das ‚Templerhaus’ als einziges bis heute erhalten, weil es als Steinbau die Masse der Lehm- und Holzhäuser überdauerte und in jüngerer Zeit nicht zerstört wurde (wie etwa der 1865 durch einen Brand vernichtete Bickenbacher Hof, der nahe des Judentors lag und ebenfalls ein romanischer Steinbau des 13. Jahrhunderts war).
Neue Ansätze zur Geschichte des sogenannten Templerhauses
Was kann dann jenseits von jüngsten Spekulationen als wissenschaftlich belegt angenommen werden? Kunsthistorisch gilt das ‚Templerhaus’ als romanischer Wohnturm, wie sich in der Region noch einzelne Beispiele finden lassen. Maßgeblich das Haus ‚Korbisch’ in Treis-Karden ist sehr ähnlich, es war Sitz des Stiftspropstes und wurde dendrochronologisch (über die Jahresringabstände von im Haus verbauten Holz) auf das Jahr 1208 datiert.[12] Diese Wohntürme waren, was für Bürgerhäuser der damaligen Zeit selten war, aus Stein gebaut und im Ursprung durch hohe Wehrhaftigkeit gekennzeichnet, etwa schmale Fenster und einen nur über eine Außentreppe erreichbaren Hocheingang. Diese Konzentration auf den Verteidigungswert nahm bei jüngeren Wohntürmen zugunsten der Repräsentation ab. Auch beim Bopparder Haus war dies der Fall, das nachweislich zu mindestens drei Seiten aufwendig und schmuckvoll gestaltete Fenster und Blenden besaß sowie über Kamine beheizt wurde. Dazu war die Fassade mehrfarbig gefasst und das Haus daher nicht nur durch seine Höhe weithin sichtbar. Bis heute erhalten sind die gut 800 Jahre alten Fenster der West- und Nordseite (also in Richtung der Kurfürstlichen Burg und zum Rhein hin), außerdem viel mittelalterliche Substanz in den Wänden. Besitzer des ‚Templerhauses’ waren daher höchstwahrscheinlich wohlhabende Ministeriale, Adelige oder höhere Geistliche.[13]
Ein neuer, im Rahmen der Bachelorarbeit entwickelter Ansatz bzgl. der ursprünglichen Eigentümer sei nachfolgend vorgestellt:[14] Zweifelsfrei ist durch das Bopparder Urkataster bekannt, dass Maria Schaaf (1780-1859) im 19. Jahrhundert Eigentümerin mehrerer Gebäude in der Seminarstraße war, zu denen auch das ‚Templerhaus‘ gehörte, welches sie als Kelterhaus nutzte.[15] Stellt man sich die Frage, wie sie zu diesem Eigentum gekommen ist, ist nun höchst interessant, dass sie in erster Ehe mit Friedrich Josef Kirris (1744-1812) bis zu dessen Tod verheiratet war.[16] Kirris war zeitweise Bopparder Bürgermeister, aber auch Kellner des Stein’schen Hofes zu Boppard und somit zuständig für die Verwaltung der hiesigen Kellerei und Besitzungen der Freiherren vom und zum Stein zu Nassau. 1808 kaufte er die linksrheinischen Güter derer vom Stein, und auch der Stein’sche Hof ging somit in seinen Privatbesitz über.[17] Er starb 1812 in einem Haus in der Rheingasse (zu dem Zeitpunkt Hausnr. 77), wobei es sich vermutlich um das Schaaf’sche Haus handelte, das 1896 abgerissene Nachbargebäude des ‚Templerhauses’.[18] Nun ist die Vermutung sehr naheliegend, dass erstens Maria Schaaf in dieser kinderlosen Ehe die Bopparder Häuser ihres Mannes erbte (das ‚Templerhaus’ also auf diesem Wege in ihren Besitz gelangte) und zweitens das ‚Templerhaus’ Teil des Stein’schen Hofes gewesen sein könnte.
Die Freiherren vom und zum Stein wiederum hatten den Hof ab 1603 als Lehen des Bistums Bamberg erhalten. Besitz der Bamberger Kirche in Boppard ist seit 1021 belegt, das Lehen des Bistums bestand neben dem sog. ‚Bambergischen Hof’ zu Boppard auch aus Weinbergen, dem Weinzehnten und dem Dorf Udenhausen mitsamt seinen Untertanen.[19] Vor den Freiherren von und zum Stein waren weitere Adelsgeschlechter hiermit belehnt, darunter die von Liebenstein, von Unzberg, von Schwalbach und von Eltz. Es existiert zudem eine Urkunde von 1216, die einen Rechtsstreit zwischen der Bamberger Kirche und dem Verwalter des Bambergischen Hofes zu Boppard wegen des Baus eines steinernen (!) Hauses zum Gegenstand hat.[20]
Ausblick
Der Verfasser hält aus diesen Gründen den möglichen Zusammenhang zwischen ‚Templerhaus’ und Bamberger Hof für unbedingt prüfenswert, warnt jedoch auch davor, diese Theorie zu voreilig als gesichertes Wissen anzunehmen, wie es im Falle der Deutschordensthese schon einmal geschehen war. Die Diskussion um die Geschichte des sogenannten ‚Templerhauses’ sollte nun neu beginnen und frei von alten, nicht belegbaren Zuschreibungen stattfinden. Historiker und Heimatforscher müssen auf wissenschaftliche Weise (d.h. durch sorgfältige, kritische Quellenarbeit und korrekte Zitation) erforschen, welche Aussagen zur Geschichte des ‚Templerhauses’ tatsächlich belegbar getroffen werden können. Es ergeben sich hieraus viele Chancen, etwa auch die Verortung eines bisher nicht auffindbaren Adelshofes beim ‚Templerhaus’ – denn längst sind nicht alle Adelshöfe Boppards in ihrer historischen Lage bekannt, zumal viele nicht mehr erhalten sind[21] und sich der Sitz von Adelsgeschlechtern innerhalb der Stadt auch über die Jahrhunderte ändern konnte. Es bildet sich Raum für neue Verknüpfungen, die bislang vielleicht aus dem Grund nicht entstanden sind oder geäußert wurden, weil die Geschichte des sogenannten ‚Templerhauses‘ als vermeintlich abschließend geklärt galt.
Das verstärkte Interesse, welches dem Haus derzeit beigebracht wird, ist zu begrüßen. Für den Erhalt von Kulturdenkmalen ist es unbedingt erforderlich, dass auch die Allgemeinheit, also insbesondere die Bopparderinnen und Bopparder, den Gebäuden mit Neugierde begegnen und sich für den Schutz ihrer Substanz einsetzen. In Boppard haben wir das große Glück, dass mit dem ‚Templerhaus’ noch ein Profanbau aus dem Hochmittelalter erhalten ist, das Zeugnis gibt von der Zeit, in der Boppard Freie Reichsstadt des Heiligen Römischen Reiches und unmittelbar dem Kaiser unterstellt war. Die originale Substanz ist für die historische Bauforschung von höchster Bedeutung und enthält Spuren, aus denen wir Erkenntnisse über mittelalterliche Bautätigkeit am Mittelrhein, das Leben des gehobenen Bopparder Bürgertums/Adels, die Bedeutung dieser Stadt zur Stauferzeit und den Umgang mit altem Erbe um 1900 (mit den neoromanischen Baumaßnahmen der Ursulinen am Gebäude) ziehen können. Boppard verfügt eben nicht nur über römisches, sondern auch jüngeres (hier: mittelalterliches) Erbe von überregionaler und internationaler Bedeutung im Rahmen des UNESCO-Weltkulturerbes. Hüten wir es gut!
[1] Vgl. Michaelis, Kent: Das „Templerhaus“ in Boppard. Historische und kunsthistorische Untersuchung eines spätromanischen Baudenkmals, Bachelorarbeit, Universität Koblenz-Landau 2018.
[2] Vgl. ebd., S. 2, 5-7.
[3] Vgl. Koelges, Michael: Die Flurnamen der Gemarkung Boppard, Boppard 2008 [=Bopparder VVV-Heft Nr. 15].
[4] Klein, Johann August: Rheinreise von Mainz bis Köln. Historisch, topographisch, malerisch bearbeitet vom Professor Joh. Aug. Klein. Mit zwölf lithographirten Ansichten merkwürdiger Burgen etc. in Umrissen, Koblenz 1828, S. 112. Klein bezieht sich auch auf eine Erwähnung von Tempelrittern aus Boppard, die an den Kreuzzügen und der Belagerung Ptolemais (Akkons) beteiligt waren - wozu ihn vermutlich die Sage um Konrad Beyer von Boppard bewog.
[5] Vgl. Barber, Malcolm: Die Templer. Geschichte und Mythos. Aus dem Englischen von Harald Ehrhardt, Düsseldorf 2005, S. 283-289.
[6] Vgl. Stramberg, Christian von: Das Rheinufer von Coblenz bis zur Mündung der Nahe, Koblenz 1856 (=Rheinischer Antiquarius, II. Abteilung, 5. Band), S. 459.
[7] Vgl. Scheins, M.: Die Pfarrkirche des h. Severus zu Boppard, in: Bock, Franz (Hrsg.): Rheinlands Baudenkmale des Mittelalters. Ein Führer zu den merkwürdigsten mittelalterlichen Bauwerken am Rheine und seinen Nebenflüssen. Zweite Serie, Köln/Neuss 1868, S. 1-24, hier S. 24.
[8] Vgl. MRUB [=Mittelrheinisches Urkundenbuch] III, Nr. 561 (Urkunde vom Mai 1236), S. 432f.; ebd., Nr. 748 (Urkunde vom 29. Mai 1242), S. 566.
[9] Vgl. o.V.: Geschichte des Besitztums der Ursulinen zu Boppard. Das sogenannte Templerhaus, in: Echo vom Berge, Korrespondenzblatt für die ehemaligen Zöglinge der sämtlichen Unterrichts- und Erziehungs-Anstalten der Ursulinen-Kongregation Kalvarienberg 13, Heft 3 (1917), S. 50; Michaelis, Templerhaus, S. 9f.
[10] Vgl. Vogts, Hans: Das Bürgerhaus der Rheinprovinz, Düsseldorf 1929, S. 52f.; Volk, Otto: Boppard im Mittelalter, in: Mißling, Heinz E. (Hrsg.): Boppard. Geschichte einer Stadt am Mittelrhein. Erster Band, Boppard 1997, S. 61-412, hier S. 306; Michaelis, Templerhaus, S. 7-10.
[11] Vgl. MRUB III, Nr. 503 (Urkunde vom 5. Juni 1234), S. 390f.
[12] Vgl. Frank, Lorenz: Der Vorgängerbau des spätromanischen ”Korbisch” in Karden an der Mosel, in: Rheinische Heimatpflege 3, (1999), S. 191-198, hier S. 196.
[13] Vgl. Michaelis, Templerhaus, S. 25-44.
[14] Vgl. ebd., S. 10-14.
[15] Vgl. LHA KO (Außenstelle Kobern-Gondorf) Best. 733 Nr. 468 Bd. 1: Bopparder Urkataster von 1828; Vermessungs- und Katasteramt Osteifel-Hunsrück: Bopparder Urkatasterkarte von 1825; vgl. Kreuzberg, Bernhard Josef/ Ledebur, Alkmar von: Das alte Boppard in Bildern von Nikolaus Schlad und Texten von Wilhelm Schlad, Koblenz 1983, S. 54.
[16] Vgl. Frauenberger, Michael: Bopparder Bürgerbuch. Erster Band, Die alte Stadt Boppard. 1569-1800, Karlsruhe 1999, S. 370; ders.: Bopparder Bürgerbuch. Vierter Band. Die alte Stadt Boppard. 1800-1900, Saarwellingen 2013, S. 761.
[17] Vgl. Archiv der Freiherren vom und zum Stein zu Nassau, Akten Nr. 5858; Pauly, Ferdinand: Beiträge zur Geschichte der Stadt Boppard. Band 1, Boppard 1989, S. 95.
[18] Vgl. Frauenberger, Bürgerbuch IV, S. 414.
[19] Vgl. Pauly, Beiträge, S. 87-95.
[20] Vgl. ebd,. S. 89f.; MRUB III, Nr. 61 (Urkunde von 1216), S. 63f.
[21] Vgl. Pauly, Beiträge, S. 87.
Der Artikel wurde mit Bildmaterial veröffentlicht in: Rund um Boppard, Nr. 1/2, 11. Januar 2019
Dr. Rainer Lahme
Boppard, Begegnungen mit der Geschichte (Teil 3)
Boppard und das gescheiterte Königtum des Richard von Cornwall (1257-1272)
in: Rund um Boppard Nr. 4, 25. Januar 2019
Die Staufer am Mittelrhein
Im Vorfeld der großen Ausstellung über „Die Staufer und Italien“ im Jahr 2010/11 in Mannheim sprachen die Ausstellungsmacher von drei großen Innovationsregionen im mittelalterlichen Europa zur Zeit der Staufer: Oberitalien, Sizilien und den Rhein-Neckar-Raum[1]. Unmittelbar am Rande des Gebietes nördlich der Alpen liegt die Region des Mittelrheins mit seinen blühenden Kommunen, und es ist durchaus berechtigt, auch den Territorien entlang des Mittelrheins Aufmerksamkeit zu schenken, wenn man sich mit der Herrschaft der Staufer beschäftigt. Denn der Rhein als günstiger Verkehrsweg und bedeutender Wirtschaftsfaktor war in seiner ganzen Länge immer im Blickfeld der regierenden Könige, so auch der staufischen Herrscher. Der Rhein verband den Norden mit dem Süden, und der mittelalterliche Geschichtsschreiber Otto von Freising wird immer wieder gern zitiert, wenn er davon spricht, dass am Rhein „bekanntlich die größte Kraft des Reichs“ liege[2]. Und er fährt fort: „Dieses Gebiet nämlich, das der hochberühmte Rhein, einer der drei bedeutendsten Ströme Europas, durchschneidet, an dessen einem Ufer die Grenze Galliens, an dessen anderem diejenige Germaniens verläuft, ist reich an Getreide und bietet eine Fülle von jagdbarem Wild und Fischen. … Dort können daher die Herrscher, wenn sie sich im Gebiet nördlich der Alpen aufhalten, am längsten versorgt werden“[3]. Ein Königshof stand auch in Boppard, und zahlreiche Besuche von Herrschern im Mittelalter in unserer Stadt zeugen davon, dass hier ein gewisser Wohlstand vorhanden war und ein König mit seinem Gefolge wenigstens für eine gewisse Zeit ausreichend versorgt und bewirtet werden konnte.
Kein Wunder also, dass auch die Staufer danach trachteten, ihre Position am Mittelrhein zu behaupten und vor allem darauf zu achten, dass das dortige Reichsgut in den eigenen Händen verblieb und nicht von lokalen Konkurrenten in Besitz genommen wurde. Zugleich versuchten sie, ihre Hausmacht zu festigen, also Besitz zu erwerben, der der eigenen Dynastie gehörte.[4] Bereits im 11. Jahrhundert hatten die Staufer in unserer Gegend Besitz um Alzey, Nierstein, Oppenheim, Bingen und Boppard.[5]
Vor allem in der Zeit des Stauferkaisers Friedrich II. (1196-1250) war Boppard wohl offenkundig ein wichtiger Stützpunkt der Staufer am Mittelrhein. Die Stadt hatte den Status einer Reichsstadt, was auch daran lag, dass sich die Staufer bei der Absicherung ihrer Herrschaft auf die Stadtgemeinden stützten. Denn die Macht – auch am Mittelrhein – gehörte niemals allein den Königen und Kaisern, sondern sie standen immer in der Konkurrenz mit großen und kleinen Herrschaftsträgern. Bei uns waren dies vor allem die Erzbischöfe von Mainz, Trier und Köln, die sich herausbildende Pfalzgrafschaft bei Rhein (Bacharach) und die kleineren geistlichen und weltlichen Akteure. Als Reichsstadt hatte Boppard den Vorteil, in seiner „Freiheit“ von keinem der lokalen Territorialherrscher bedrängt zu werden. Dem König gegenüber hatte man zwar seine Pflichten und musste Steuern entrichten und die Befestigungsanlagen unterhalten, aber der Herrscher war ansonsten in der Regel nicht vor Ort, um seine Ansprüche unmittelbar geltend zu machen. Im Gegenzug hatte die Stadt in der Regel das Marktrecht. Kaufleute und Handwerker ließen sich in Boppard nieder und eine Stadtkultur bildete sich heraus. Dies alles waren ideale Voraussetzungen für die Entstehung eines gewissen Wohlstands, der in der Stadt verblieb. Wir können uns Boppard in der Zeit der Staufer also durchaus als eine aufblühende und selbstbewusste Stadt vorstellen, in der es sich gemessen an den Maßstäben des Mittelalters zumindest für den Adel, den Klerus, die Bürger und die aufstrebende Schicht der Ministerialen gut leben ließ.
Der einsetzende Untergang des staufischen Herrscherhauses seit 1250/54 führte auch am Mittelrhein und damit für Boppard zu Veränderungen. Nach den Staufern gab es für lange Jahre kein starkes Königtum mehr, vielmehr kam es zu heftigen Auseinandersetzungen verschiedener Kandidaten und seit 1257 sogar zu einem Doppelkönigtum. Boppard verloren die Staufer 1251 erst einmal an den Gegenkönig Wilhelm von Holland.[6] Aber man sollte es sich nicht so vorstellen, als ob nun jedwede Ordnung mit einem Mal zusammengebrochen und das Chaos ausgebrochen wäre. Der König war im Mittelalter ja nur ein Faktor, der als ordnende Macht agierte. Daneben gab es die „Großen“ des Reiches, die Fürsten, die Fürstbischöfe, Bischöfe und Äbte, aber auch die Städte. Für eine Reichsstadt wie Boppard ergaben sich Risiken, aber auch neue Perspektiven. Es war auf der einen Seite bestimmt misslich, mit den Staufern einen mächtigen Schutzherrn verloren zu haben, mit denen die Bopparder in der Vergangenheit offenbar gut ausgekommen waren. Die begehrlichen Blicke der Nachbarn würden sich nun bestimmt auch auf Boppard richten. Auf der anderen Seite konnte man aber auch versuchen, mit anderen Kommunen am Rhein die Lücke zu füllen und selbst stärker für die eigene Sicherheit und das eigene Wohlergehen zu sorgen[7].
Der Kampf um die Krone
Das Interregnum (1254-1272) war daher keineswegs eine Zeit ohne Herrscher oder „Regierung“. Aber die Königsmacht ging zurück und in der Folge kam es folgerichtig zu einem starken Rückgang des Reichsgutes am Mittelrhein. Die Bedeutung der „Rheinschiene“ für die deutsche Politik blieb dagegen erhalten, ja wurde sogar noch gewichtiger. Denn vier der „Königswähler“ kamen aus diesem Gebiet und konnten ihre Macht weiter ausbauen. Es waren dies der Erzbischof von Köln, der Erzbischof von Trier, der Erzbischof von Mainz und der Pfalzgraf bei Rhein. Am Rhein wurde in den kommenden Jahren über das deutsche Königtum entschieden. Nur gab es noch keine genau festgeschriebenen Regeln, wie und von wem ein deutscher König gewählt werden sollte. Unklar war auch, wie der Wahlgang organisiert werden konnte und ob eine einfache Mehrheit der Wahlstimmen reichen sollte, um allgemein als König anerkannt zu werden. Und eine solche Situation führt fast zwangsläufig zu Unstimmigkeiten, Machtkämpfen und ungeklärten Fronten. Und Boppard geriet in diese Auseinandersetzungen hinein!
1257 wurden gleich zwei Könige an verschiedenen Orten und von unterschiedlichen „Königswählern“ auf den deutschen Thron gehoben. Es waren dies König Alfons X. von Kastilien und Richard von Cornwall, der Bruder des englischen Königs. Während Alfons X. in den kommenden Jahren zu keiner Zeit überhaupt deutschen Boden betrat, versuchte Richard von Cornwall durchaus, sein Königtum in Besitz zu nehmen. Doch wer war dieser „Engländer“, und warum ging er das Risiko ein, die deutsche Königskrone erobern zu wollen und dafür einen großen Teil seines nicht unbeträchtlichen Vermögens zu investieren und unter Umständen zu verlieren? Verfolgte Richard eine politische Strategie, und wenn ja, hatte er seine machtpolitischen Optionen klug berechnet oder lief er Gefahr, sich durch sein Engagement im Deutschen Reich politisch und finanziell zu übernehmen? Und welchen Stellenwert in diesem Kampf um Macht, Einfluss und Prestige auf der europäischen Ebene hatte Boppard, die Stadt am Mittelrhein?
Richard von Cornwall entstammte dem berühmt-berüchtigten Haus der Plantagenets. Sein Vater war der aus vielen Robin-Hood-Filmen bekannte König Johann von England (1167-1216), sein Onkel der für seinen Heldenmut, aber auch für sein Ungestüm, verehrte und gefürchtete Richard Löwenherz. Geboren im Jahr 1209 in Winchester, war er der um zwei Jahre jüngere Bruder des englischen Königs Heinrich III., der von 1216 bis 1272 auf dem englischen Thron saß. Richard von Cornwall war allem Anschein nach nicht so ein mutiger und verwegener Kämpfer wie sein Onkel Richard Löwenherz. Richard war wohl eher ein Mann des Ausgleichs, der seine Möglichkeiten klug einschätzte und allzu große Risiken vermied. Er nutzte vielmehr seine Zeit, um parallel zu den Aktivitäten seines königlichen Bruders, „den er an politischem Geschick weit übertraf“[8], seine eigenen Ambitionen nicht aus den Augen zu verlieren. Diese Ziele verfolgte er nicht allein in England, sondern – wie es seiner Zeit und dem Haus Plantagenet entsprach – in Frankreich, im Reich der Staufer und im Heiligen Land. Richard von Cornwall hatte, wie man es modern formulieren würde, durchaus eine eigenständige Agenda, wenn es mitunter auch schwerfällt, diese in den wechselnden Konstellationen auf der Bühne der europäischen Politik zu erkennen[9].
Für seinen Versuch, die deutsche Königskrone und daran anschließend sogar unter Umständen die Kaiserkrone zu erlangen, war Richard von Cornwall gut gerüstet. Mit dem englischen Hochadel, den Baronen, war er eng verbunden. 1231 hatte er Isabella Marshal geheiratet, die Schwester des William Marshal, Earl of Pembroke. Dieser war einer der mächtigsten Barone Englands. Zu seinem Bruder auf dem englischen Thron hatte er nach manchen Streitigkeiten ein auskömmliches Verhältnis aufgebaut. Man stützte sich gegenseitig. 1240/41 hatte er an einem Kreuzzug ins Heilige Land teilgenommen und dabei die Burg Askalon errichtet[10]. Die Teilnahme an einem Kreuzzug vermehrte sein Prestige und war nützlich, wenn er einmal die Unterstützung des Papsttums benötigen würde. Für seinen Wunsch, unter Umständen die Kaiserkrone zu erwerben, war dies eine wichtige Voraussetzung. Und Richard von Cornwall hatte vor allem das, was man für eine erfolgreiche Königswahl im Deutschen Reich immer gut gebrauchen konnte: Geld! Seit 1227 war er der Earl of Cornwall, was ihm große Einkommen sicherte, und durch seine Beteiligung an der Münzerneuerung in England und die Ausübung des Judenschutzes hatte sich sein Reichtum weiter vermehrt. Ein zeitgenössischer Chronist bezeichnete ihn als „von Geldgier und Ruhmsucht besessen“[11].
Doch auch die Risiken seines Griffs nach der deutschen Krone waren nicht zu übersehen. Richard kannte das Land, dessen König er werden wollte, nicht. Er verfügte dort nicht über ein personales Beziehungsgeflecht, das insbesondere im Mittelalter für eine erfolgreiche Herrschaft so wichtig war. Vermutlich sprach er nicht einmal die Sprache seiner künftigen Untertanen. Und er musste darauf vertrauen, dass seine politische und finanzielle Basis in England ruhig blieb, denn ohne seine fortbestehende Verankerung in England war sein „Abenteuer“ im Deutschen Reich gleichsam aussichtslos. Doch die Versuchung, eine Königskrone zu erhalten und damit den gleichen Rang wie sein Bruder einzunehmen, muss groß gewesen sein. Und die Gelegenheit war da, denn kein deutscher Fürst wollte offenbar die Krone haben!
Geld, sogar viel Geld brauchte er bereits, um einige der deutschen Wahlmänner auf seine Seite zu bringen. Es gelang ihm, den Mainzer Erzbischof Gerhard von Eppstein, den rheinischen Pfalzgrafen Ludwig von Wittelsbach und den Kölner Erzbischof Konrad von Hochstaden für sich zu gewinnen[12]. Mit der Zustimmung seines Bruders und der englischen Barone wurde er am 13. Januar 1257 vor den Toren Frankfurts zum deutschen König erhoben[13]. Ottokar von Böhmen schloss sich dieser Wahl an. Das waren mit vier Stimmen zwar nicht allzu viele Wahlstimmen, aber seinen Konkurrenten, Alfons von Kastilien, hatte er damit ausmanövriert. Denn dieser wurde erst am 1. April 1257 gleichfalls zum deutschen König gewählt. Als treibende Kraft stand der Trierer Erzbischof hinter seiner Wahl. Dazu kamen die Stimmen des Herzogs von Sachsen, des Markgrafen von Brandenburg und wiederum des Böhmen Ottokar, der damit beiden Kandidaten seine Stimme gegeben hatte[14].
Etwas schneller als sein Konkurrent war Richard von Cornwall auch mit seiner Krönung: am 17. Mai 1257 wurde er in Aachen zum römisch-deutschen König gekrönt.
Hatte er seine Wahl allein mit viel Geld erkauft? Das ist vielleicht ein zu hartes Urteil, aber die Offenheit, mit der vor der Wahl über die zu zahlenden Summen verhandelt wurde, wirft kein großartiges Bild auf die Umstände der Wahl, auch nicht auf diejenigen, die das Geld kassierten. Aber ausschlaggebend für die Wahl war das Geld wohl nicht. Es gab einfach keine anderen Kandidaten! Der Historiker Martin Kaufhold hat Überlegungen angestellt über den Wert des Geldes, das im Vorfeld der Wahl den Besitzer wechselte:
Es ist nicht einfach, eine Vorstellung vom Wert der Zahlungen zu erhalten, zu denen sich Richard anlässlich seiner Wahl verpflichtete. Wir verfügen nur über wenige Vergleichswerte aus dieser Zeit. Die Kölner Mark war ein verbreitetes Standardmaß. In einer Kölner Steuerliste von 1286 können wir erkennen, dass die guten Häuser in begehrten Kölner Stadtvierteln knapp 100 Mark wert waren. Die meisten Häuser waren deutlich billiger, mit Preisen von einem Viertel dieser Summe. Die teuersten Häuser wurden mit einem Wert von 288 Mark veranschlagt. Das gesamte Stadtviertel St. Kolumba mit 889 Objekten wurde im Jahr 1286 mit einem Immobilienwert von etwa 29000 Mark taxiert. Das war ungefähr die Größenordnung der Summe, die Richard von Cornwall für seine Königswahl zahlen musste[15].
Für Erfolg oder Misserfolg der deutschen Königsherrschaft von Richard von Cornwall war entscheidend, wie es ihm gelingen würde, seine englischen und seine deutschen Interessen zu koordinieren. Hatte er die Kraft und die Ressourcen, sich auf zwei Schauplätzen der europäischen Politik, die räumlich recht weit auseinander lagen und durch den Ärmelkanal getrennt waren, zu behaupten? Und in Deutschland hatte er keine eigene Machtbasis, die musste er sich erst aufbauen. Denn Herrschaft im Mittelalter konnte immer nur dann effizient ausgeübt werden, wenn der Herrscher auch persönlich vor Ort anwesend war und seinen Anspruch dem Volk gegenüber auch verdeutlichten konnte. Das Beste war, mit einem ansehnlichen Gefolge von Rittern seine Länder zu bereisen, seinen Reichtum und seine Macht offen zu zeigen. Dabei spielten auch die Reichsinsignien eine wichtige Rolle. Denn wer sie im Besitz hatte, konnte demonstrieren, dass er auch der rechtmäßige Herrscher war. Richard hatte sie[16], sein Gegenspieler aus Spanien nicht.
Boppard und das Königtum des Richard von Cornwall
In kluger Abwägung seiner Möglichkeiten konzentrierte sich Richard im Deutschen Reich ganz auf die Gebiete entlang des Rheins. Doch das Schwergewicht seiner Aktivitäten „lag weiterhin in England“[17]. In den 15 Jahren und drei Monaten seiner Herrschaft brachte es Richard bei seinen vier Aufenthalten im Deutschen Reich auf insgesamt 36 Monate Anwesenheit[18]. Einen ersten Erfolg hatten die Parteigänger des neuen Königs bereits vor seiner Krönung am Mittelrhein erzielt. Der Mainzer Erzbischof hatte den Trierer Erzbischof Arnold II., einen Parteigänger des kastilischen Konkurrenten, in einer militärischen Auseinandersetzung vor Boppard besiegt. Bei der von Arnold vergeblich belagerten Burg, von der Thon spricht, wird es sich wohl um den vor der eigentlichen Stadt liegenden Königshof gehandelt haben[19]. Nur wenige Wochen später finden wir den König dann persönlich vor Boppard wieder, das mit Ausnahme der Burg[20] erneut in die Hände des Trierer Erzbischofs gefallen war. Die Bedeutung des Besitzes von Boppard wird aus der Länge der Kämpfe ersichtlich, die nach den Berechnungen von Thon am 14. Juli 1257 begannen und sich bis zum 10. August des Jahres hinzogen[21]. Aus den Zeugenlisten der von Richard in dieser Zeit ausgestellten Urkunden lässt sich zudem der Kern der Anhängerschaft des neuen Königs erschließen, die ihm mit Zu- und Abgängen von Aachen über Köln und Bonn bis in das Heerlager vor Boppard gefolgt waren und aus den Territorien entlang des Rheins stammten. Allein daran lässt sich die überragende Bedeutung der Rheinlande für das Königtum Richards erkennen. Der zog nach der Eroberung von Boppard und Bingen weiter den Rhein entlang nach Mainz und gelangte mit Weißenburg im Elsass an den südlichsten Punkt im Deutschen Reich bei seinem ersten Aufenthalt 1257/58[22].
Wie in einem Brennglas lässt der Blick auf den ersten Aufenthalt Richards im Reich die Konturen seiner Königsherrschaft erkennen. Der neue König wollte seine Herrschaft durchaus durchsetzen. Er konzentrierte sich dabei auf die Rheinlande als wichtige Nord-Süd-Achse, stellte zahlreiche Urkunden aus, um seine Königsmacht zu festigen und Verbündete zu gewinnen, und schreckte auch vor dem Einsatz militärischer Macht wie beim Kampf um Boppard nicht zurück. Doch für das eigentliche Problem seiner Königsherrschaft konnte er keine Lösung finden: sobald er nach England zurückkehrte, war sein Königtum im Deutschen Reich immer wieder gefährdet. Er konnte keine dauerhafte und stabile Ordnung errichten. Doch genau dies erwartete man von einem König!
Am 4. Oktober 1260 finden wir Richard bei seiner zweiten Reise in das Deutsche Reich wieder ganz kurz in Boppard, wo er auch zwei Urkunden ausstellte[23]. Zu Beginn seiner dritten Anwesenheit stellte er zunächst in Aachen dem mächtigen Böhmenkönig Ottokar eine Belehnungsurkunde für Böhmen, Mähren, Österreich und die Steiermark aus[24]. Dies mag darauf hindeuten, dass Richard jenseits der Rheinschiene keine großen Ambitionen verfolgte oder verfolgen konnte. Danach zog er erneut an den Mittelrhein und hielt sich für acht Tage wiederum in Boppard auf[25]. Mit seinem Privilegium für das Kloster Marienberg stellte sich der König in die Tradition der Staufer, welche die geistlichen Niederlassungen in der Stadt gleichfalls gefördert hatten.
Auf seinem Rückweg ist er auch wieder für einen Tag in Boppard[26], was darauf hindeutet, dass ihm hier eine Übernachtungsmöglichkeit zur Verfügung stand. Er stellte hier am 15. Januar 1263 eine Urkunde aus, die das Kloster Eberbach vom Rheinzoll an allen Reichszollstätten befreite[27]. Erst 5 ½ Jahre später kehrte Richard von Cornwall dann wieder in das Deutsche Reich zurück. Da hatte sich das Schicksal seines Königtums aber bereits entschieden – und zwar in England, so merkwürdig dies zunächst erscheinen mag.
Aufstand in England
Nach England musste er immer wieder zurückkehren, um dort seine Interessen zu sichern und vor allem seine finanziellen Verhältnisse im Blick zu behalten. Doch das war es nicht allein. Denn 1264 tobte auf der Insel der Kampf der Barone gegen die Herrschaft Heinrichs III., nachdem man sich schon einige Jahre lang über die Verteilung der Macht zwischen dem König und seinen „Großen“, den Baronen, gestritten hatte. Richard von Cornwall stellte sich auf die Seite seines Bruders. Im Mai 1264 wurden die Truppen des Königs bei dem Ort Lewes vom Heer der Barone unter der Führung des Simon von Montfort schwer geschlagen. Der König und Richard gerieten in Gefangenschaft, in der Richard über ein Jahr ausharren musste (14. Mai 1264 – 6. September 1265.) Wenngleich sich das Kriegsglück noch einmal entscheidend zugunsten des Königtums änderte und die Rebellen im August 1265 dauerhaft besiegt werden konnten, war die Zeit der Gefangenschaft für Richards Ambitionen mehr als misslich. Man muss sich diese Gefangenschaft nun nicht so vorstellen, dass er an Ketten gebunden in einem düsteren Verlies einsitzen musste. Aber seine Bewegungsfreiheit war drastisch eingeschränkt, er konnte nicht mehr richtig kommunizieren, und ein deutscher König, der auf einer englischen Burg festsaß, war kein mächtiger König mehr und verlor entscheidend an Prestige und Einfluss. Daran konnte auch ein letzter Zug entlang des Rheins 1268/69 nichts mehr ändern, obgleich es 1269 zu einer glänzend inszenierten Hochzeit mit Beatrix, der Nichte des Kölner Erzbischofs, in Kaiserslautern kam. Am 2. April 1272 starb Richard von Cornwall in Berkhamstead in der Grafschaft Hertfordshire, im gleichen Jahr wie sein Bruder, König Heinrich III. Begraben wurde er im Kloster Hailes nordöstlich von Gloucester.
Boppard und Richard von Cornwall – eine Bilanz
Nachhaltige Spuren hat das Königtum Richards von Cornwall am Mittelrhein und in Boppard nicht hinterlassen[28]. „Sein Königtum blieb eine Episode“, so der Historiker Martin Kaufhold[29]. Oder stimmte dies für Boppard nicht ganz? Seit 2018 benennt sich ein Restaurant in der Kurfürstlichen Burg nach dem König aus England. Und gern wurde in den letzten Jahren Richard von Cornwall als der erste Bauherr der Kurfürstlichen Burg genannt, da er den Grundstein für die spätere Burg gelegt habe. Dabei berufen sich die Anhänger dieser These auf die Resultate der Bauforschung von Lorenz Frank[30]. Allerdings ist Vorsicht geboten, denn Frank selbst präsentiert seine These im Konjunktiv: Bei einem der Aufenthalte des Königs in den 1260er Jahren in Boppard „dürfte er die Errichtung des viergeschossigen Bergfrieds veranlasst haben, der sich im Jahre 1265 in Bau befand“[31]. Die Datierung ist das Resultat einer dendrochronologischen Untersuchung, basierend auf der Auswertung „eines Gerüstholzes in der Nordmauer des Turms auf Höhe des zweiten Obergeschosses“[32]. Ohne die Ergebnisse einer derartigen Untersuchungsmethode in Zweifel ziehen zu wollen, ist für den Historiker eine eindeutige Festlegung auf ein bestimmtes Jahr nicht ganz unproblematisch, wenn sie sich auf ein einziges Gerüstholz stützt und wenn sich Richard von Cornwall „offensichtlich … in den schriftlichen Quellen nicht als Bauherr des Bergfrieds belegen“ lässt, wie auch Frank unter Hinweis auf den derzeitigen Stand der historischen Forschung einschränkend konstatiert[33]. Trefflich diskutieren lässt sich in diesem Kontext auch über die Frage, ob Richard von Cornwall überhaupt eine zweite Burg in Boppard benötigte. Denn vor den Toren der Stadt stand ihm ja der traditionelle Königshof zur Verfügung. Und nach der Einnahme von Boppard 1257 hatte Richard den Städten Frankfurt am Main, Friedberg, Wetzlar, Gelnhausen und Oppenheim ihre bisherigen Privilegien bestätigt und zugesichert, „dass innerhalb des Stadtbereichs keine Burg errichtet werden sollte“[34]. Wenngleich der Bergfried in Boppard „östlich vor der Nordostkante dieser Stadterweiterung unmittelbar am Rhein auf dem Feld außerhalb der Stadt“ stand[35], war die Errichtung einer solchen Anlage in unmittelbarer Nähe der Stadt sicher kein Signal der Freundschaft für die Bürger der Reichsstadt. Und Konflikte hatte Richard von Cornwall ja schon mehr als genug. Warum also sollte er den Bewohnern von Boppard einen Bergfried unmittelbar vor die Nase stellen?
Daher ist es vielleicht doch besser, weiterhin von der Kurfürstlichen Burg zu sprechen und Richard von Cornwall erst dann in den Vordergrund zu stellen, wenn die Forschung weitere belastbare Zeugnisse für diese Annahme bereitstellt.
[1]Bernd Schneidmüller, Staufer – Italien – Innovationsregionen. Begriffe und Blickachsen, in: Die Staufer und Italien. Drei Innovationsregionen im mittelalterlichen Europa, hrsg. von Alfried Wieczorek, Bernd Schneidmüller, Stefan Weinfurter, Mannheim-Darmstadt 2010, S.19-30.
[2] Zitiert nach ebd., S.24.
[3] Ebd.
[4] Wenn eine Familie dann in den Besitz der Königsherrschaft gelangte, war es mitunter sehr schwierig, die genauen Besitzverhältnisse festzustellen, d.h. das Reichsgut und das Hausgut zu unterscheiden.
[5] Odilo Engels, Die Staufer, Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz, 3. Auflage 1984, S.19
[6] Engels, S.158
[7] 1254 schlossen sich zahlreiche Städte, darunter auch Boppard als eines der frühen Mitglieder, im Großen Rheinischen Städtebund zusammen. Dies sollte der Sicherung der Handelswege und damit den wirtschaftlichen Interessen der Kommunen dienen.
[8] Manfred Groten, „Richard von Cornwall“, in: Neue Deutsche Biographie 21 (2003), S.505.
[9] Es ist das Verdienst von Manfred Groten, eine derartige längerfristige Strategie des Richard von Cornwall in seinem kleinen Beitrag für die NDB zu umreißen. Ansonsten ist der Forschungsstand unbefriedigend, da eine deutschsprachige Biographie ganz fehlt und allein eine englische Darstellung aus dem Jahr 1947 vorliegt: N. Denholm Young, Richard of Cornwall, Oxford 1947.
[10] Dabei war es über die richtige Strategie vor Ort zum Streit mit dem Templerorden gekommen. Vgl. Alain Demurger, Die Templer. Aufstieg und Untergang 1120-1314, München 1991, S.199
[11] Zit. bei Groten, S.505.
[12] Über die komplizierten Verhandlungen berichtet Manfred Groten, Mitravit me, et ego eum coronabo – Konrad von Hochstaden und die Wahl Richards von Cornwall, in: Anton Neugebauer, Klaus Kremb, Jürgen Keddigkeit (Hrsg.), Richard von Cornwall. Römisch-deutsches Königtum in nachstaufischer Zeit, Kaiserslautern 2010, S.25-54.
[13] Über die zum Teil recht merkwürdigen Umstände seiner Wahl siehe Martin Kaufhold, Interregnum, Darmstadt, 2. Auflage 2007, S.53ff.
[14] Ebd., S.56
[15] Ebd., S.63
[16] Alexander Thon, Studien zur Bedeutung der pfälzischen Reichsministerialität für Itinerar und Herrschaftspraxis des römisch-deutschen Königs Richard, Graf von Cornwall (1257-1772), in: Neugebauer u.a., Richard von Cornwall, S.154.
[17] Kauffeld, S.66.
[18] Diese Zahlen bei Thon, S.145, Anm. 10
[19] Vgl. dazu Thon, S.154, Anm. 63.
[20] Mit der Burg kann im Grunde genommen nur der Königshof gemeint sein. Dies ergibt auch einen Sinn, wenn die Stadt wieder in den Händen des Trierers war, der vor der Stadt gelegene Königshof aber nicht.
[21] Vgl. Thon, S.159.
[22] Zu den weiteren Aufenthalten Richards im Reich vgl. ausführlich Thon, S.166-183.
[23] Thorn, S.168, spricht von einem Tag für seinen Aufenthalt.
[24] Kaufhold, S.88; etwas anders bei Thon, S. 169.
[25] Thon, S.171
[26] Thon, S.175.
[27] Thon, S.175, Anm. 188
[28] Für die Annahme, dass Richard von Cornwall in einer engen Beziehung zu den Tempelrittern stand, von diesen ständig „begleitet und beschützt“ wurde und in Boppard in einem Haus der Templer in der Stadt gewohnt habe, konnte der Verfasser keine tragfähigen Belege finden. Vgl. dazu Paul Dolan, Boppards geheimnisvolles Templerhaus, in: Rund um Boppard, Nr. 51/52, 2018, S. 21-24, besonders S.22f.
[29] Kaufhold, S.67
[30] Lorenz Frank, Zwischen kriegerischer Auseinandersetzung und Durchsetzung von Herrschaft – die Entwicklung der Burg in Boppard am Rhein, in Burgen und Schlösser 3 (2015), S.161-171.
[31] Ebd., S.161
[32] Ebd., Anm. 4, S.170.
[33] Ebd., Anmerkung 2, S.170
[34] Vgl. Thon, S.161
[35] Frank, S. 161